Zu·flucht

Alice sitzt auf der Wäschetruhe im Flur. Mit angezogenen Beinen, in der Nische zwischen Wand und Tisch. Alice denkt: Dort, wo ich die Wand spüre, beginnt mein Rücken. Und dort, wo ich den Tisch spüre, endet mein Knie. Und Alice denkt, dass es gut ist zu wissen, wo man anfängt und wo man endet. Zum Ganz-werden ist das gut, denkt Alice.
Ihr Blick schweift über das eigene Ende hinaus in den Raum und gleitet über die Formulare, die auf dem Tisch verstreut liegen. Wo die Papiere enden, beginnen ein iPad und ein Ellbogen, und darüber der gesenkte Lockenkopf von Feh, dem Display und der darauf geöffneten Webseite zugewandt. Im Türrahmen taucht S auf. Hinter Feh bleibt er stehen und beugt sich unbemerkt über ihre Schulter. „Wie schön, dass du dir endlich eine Perspektive suchst“, sagt er und lässt Feh jäh zusammenfahren. „Aber wolltest du jetzt nicht mal was durchziehen – unterbezahlter Aushilfsjob hin oder her?“ Das Stellen-Angebot im Browser verschwindet. Die Anzeige erlischt. Wortlos schiebt Feh ihren Stuhl zurück, klemmt sich das Tablet unter den Arm und verschwindet in ihrem Zimmer. Enttäuscht sieht S ihr nach. „Kein Wutausbruch? Kein Gegenschlag?“ Er dreht sich zu Alice um und sieht sie fragend an. Alice löst sich aus ihrer Nische und schiebt ihm eines der Formulare zu. S überfliegt Einreise und Aufenthalt und Status. Und S kapiert. Nicht Feh braucht neue Perspektiven. „Aladin“, murmelt S und Alice nickt. Aladin, geduldet auf Zeit. Angekommen, aber nicht aufgenommen. Erst die Arbeit, dann der Neuanfang. Und aufgehoben ist aufgeschoben.


Gren·ze
Substantiv [die]
1. Staatsgrenze
2. Trennungslinie, die zwei unterschiedliche geographische oder politische Gebiete voneinander trennt
3. Trennungslinie zwischen Gebieten, die im Besitz verschiedener Eigentümer sind.
4. das äußerste Maß


Feh öffnet die Tür. „Und?“, fragt Feh. Aladin schüttelt den Kopf. Kein Job ohne Wohnung. Keine Wohnung ohne Job. Und für einen, der nach Mekka betet, schon gleich dreimal nicht. „Beziehungsweise fünfmal nicht“, korrigiert sich Aladin. Landfremd. Sprachfremd. Glaubensfremd. „Wo liegt Mekka?“, fragt Alice und stellt sich Aladin mit einer Art innerem Kompass vor. Muslim-Kompass. „Keine Ahnung“, antwortet Aladin und lässt sich auf einen Stuhl fallen. Hinter ihm räuspert sich S. „Dann wohnst du eben hier.“ Alle drehen sich zu ihm um. Verlegen zuckt S mit den Schultern. „Einer mehr oder weniger…“ Feh sieht ihn nur an. Aladin steht auf und drückt S die Hand, begleitet von einem Redeschwall in wechselnden Sprachen, von denen Feh eineinhalb, Alice eine halbe und S überhaupt keine versteht. Aber dass Aladin am Ende ablehnt, kommt an.
Der Mensch und sein Selbst. Selbst-Achtung. Selbst-Behauptung. Selbst-Wert.

Aladin ist stolz. Aladin sorgt für sich allein. Für sich und für Feh, vielleicht, irgendwann. Probleme, die Aladin nicht lösen kann, werden akzeptiert. Alles fügt sich. Mit zwei Koffern, einem Pass, zwei Händen und einem klugen Kopf. Arbeit und Kollegen fügen sich, schwarz und weiß, und schwarz-weiß fügt sich auch das Denken hinter ungeschwärzten Lebensläufen über fremde Lebens-Läufe, über Überlebens-Läufer aus der Fremde. Auch ein feuchtes Zimmer findet sich zum Wucher-Preis, geteilt mit 4 anderen, die einander misstrauisch beäugen. Schicht-Schlafen. „Ich muss mich dort sehen lassen“, sagt Aladin, wenn er nicht bei Feh schläft. „Oder bestehlen lassen.“ Respekt als Diebstahlsicherung. Und Alice denkt an Gütesiegel und Sicherheitsstufen und fragt sich, wo Respekt auf der ABUS-Skala für ihr Fahrradschloss läge, zwischen Trelock und high security lock system und dem extra safety level der Sicherheitsstufen 5-7 bei durchschnittlichem Risiko, und ob es auch ein TÜV-Zertifikat gäbe für Respekt, und der Hersteller verspricht: Einen 100%igen Schutz vor Diebstahl gibt es nicht.


Re·s·pekt
Substantiv [der]
die Haltung, dass man eine Person und ihre berufliche und soziale Stellung für wichtig hält und dies in seinem Verhalten deutlich zeigt.
Synonyme: Achtung, Wertschätzung


„Brauchst du nie einen Rückzug?“, fragt Alice, aber Aladin versteht die Frage nicht. Denn Rückzug, das ist militärisch, das sind Truppen, die sich zurückziehen aus feindlichem Gebiet. „Nein“, korrigiert sich Alice, „ich meine einen Rückzugsort, einen Raum für dich.“ Aber auch diese Frage versteht Aladin nicht, denn sie befinden sich doch in einem Raum, gemacht für ihn, für Alice, für Feh und für S und alle ihre Gäste. „Ich meine“, sagt Alice, „ein Zimmer für dich allein.“ Und Aladin sagt, niemand müsse allein sein, er beispielsweise hätte Feh und Familie und Freunde auf der ganzen Welt, und auch Alice müsse sich nicht alleine fühlen, ansonsten könne sie ja einfach mal versuchen ihre Tür offen stehen zu lassen – überhaupt verstehe er das nicht mit den vielen Türen in den Häusern in diesem Land. „Hast du Geschwister?“, fragt Alice, und Aladin lächelt und nickt und hebt neun Finger in die Höhe. „Neun!?“, ruft Alice aus. Und dann sagt Alice erst einmal nichts mehr.


Re·fu·gi·um
Substantiv [das]
sicherer Ort, an dem jemand seine Zuflucht findet, an den er sich zurückziehen kann, um ungestört zu sein; Zufluchtsort, -stätte


Feh sagt: „Mir egal, wo du schläfst“ und scrollt sich heimlich durch Immoscout, und S schreibt Aladins Namen mit Filzstift hinter das Klingelschild – nur für alle Fälle –, und Alice übt Vokabeln in der halben Sprache und korrigiert diskret S‘ Version von Aladins Namen hinter dem Klingelschild. Und Feh hebt S‘ Handtuch vom Boden auf (bevor es schmutzig wird), und wirft ein, zwei Hemden von S mit in die Waschmaschine (weil noch Platz ist) und fragt S, was er aus dem Supermarkt braucht (weil sie ja sowieso einkaufen geht), und korrigiert kommentarlos Alices Korrektur von S‘ Version von Aladins Namen hinter dem Klingelschild.

Und Aladin kreiert Coq au vin und boeuf bourguignon und Eclairs im „Petite Boussole“ und die exklusiven Gäste fragen nach dem Chef de Cuisine und loben das exklusive Menü zum exklusiven Preis, und am Ende der Woche gibt’s (meistens) Lohn, ohne Anspruch und ohne Adäquanz, und später zu Hause macht Aladin Couscous und Hummus und erzählt von Fisch und Fleisch im Tajine-Topf, schwärmt von Pastilla und Briouats, und zu Ramadan bereitet er ein Festessen zu, und alle sind da, um Mitternacht, und greifen hungrig zu, und Aladin freut sich und stört sich nicht an Fehs Korrektur von Alices Korrektur von S‘ Version seines Namens hinter dem Klingelschild, schließlich ist auch in dem Pass, den er immer bei sich trägt, manches falsch geschrieben – wen stört das schon, wenn es ihm Türen öffnet, die ansonsten verschlossen blieben, so wie es überhaupt zu viele Türen gibt, von denen Aladin nie begreifen wird, wem die eigentlich nützen, denn „im Kopf will ich doch auch keine Wand, die mein Denken beschränkt und mir die Sicht versperrt auf meine nächsten, noch nicht durchdachten Gedanken und die mich begrenzt, beengt, limitiert in meinem Freisein, meinem Leben, meinem Menschsein – versteht ihr, was ich meine?“