Hunger und Heim·weh

„Wir haben sie!“, jubelt Feh und fällt Alice um den Hals. „Die Wohnung, wir haben sie!“ Wir? „Du meinst Aladin?“, fragt Alice, und es klingt eigentlich eher wie eine Feststellung. „Eine Wohnung für Aladin?“ Da hört Feh auf zu jubeln. Verlegen löst sie die Umarmung. „Und für mich“, sagt sie dann und beißt sich auf die Lippe.
Das Lächeln, das Alice eben noch im Gesicht gestanden hat, fällt in sich zusammen. Sie macht einen Schritt zurück. Und dann noch einen. Und dann geht es nicht weiter zurück, denn dort ist die Wand, und Alice ist froh, dass dort eine Wand ist, damit man sich anlehnen kann, wenn einem schwindelig ist, und das ist es, was Alice jetzt tut, sich anlehnen, während Feh sie am Arm berührt, und eigentlich möchte Alice die Hand wegschlagen und sagen, dass Feh alles kaputt macht, Zuhause und Familie und alles, Heim-weh, Heim-weg, Heim weg, und „lass mich!“ möchte Alice schreien, und „dann geh doch!“ möchte Alice schreien, aber sie weiß, wie kindisch das wäre, kindisch und dumm, denn: jeder ist sich selbst verantwortlich, weiß Alice, und: am Ende ist man immer allein, weiß Alice, hat es immer gewusst, hatte es nur vergessen, für einen Moment, und ausgerechnet da, jetzt, hat es sie kalt erwischt. Und Alice wird schrecklich zornig auf sich, dass sie so dumm gewesen war, etwas so wichtiges zu vergessen, und dann hört sie sich sagen: „Hauptsache glücklich.“ Und sie meint Feh – meint, die Hauptsache sei, dass Feh glücklich sei –, aber jetzt hat Alice einen Kloß im Hals und das Sprechen fällt schwer und deshalb wird es nur „Hauptsache glücklich“, und auch reduziert ist dies noch eine Plattitüde – wie pathetisch, denkt Alice, wie prätentiös – als spiele es eine Rolle, was sie darüber denkt, als wäre dies nicht ganz allein Fehs Entscheidung, Fehs Leben, Fehs Liebe. „Nicht!“, wehrt Feh ab, „nicht umarmen, sonst heul‘ ich – siehst du? – Ach Mensch.“
Heim-weh ist, wenn Zuhause weh tut.

Noch 4 Wochen. Feh sortiert aus. Feh bereitet vor. Feh kann es kaum erwarten, denkt Alice. Wenn Alice nach Hause kommt, versperren Umzugkartons den Flur und sie drückt sich an Fehs Zimmer vorbei und flüchtet in die Küche, wo S am Herd steht und kocht. Und Alice hebt den Topfdeckel und strahlt, die erkannte Speise ausrufend, oder manchmal ruft sie auch nur etwas wie „Essen!“ oder „Richtiges Essen!“, denn es ist ganz egal, was es ist, und dann strahlt S, weil Alice strahlt. Und nach dem Essen, auf dem Sofa, teilen sie sich die graue Wolldecke, Bein an Bein. Und: „Platonisch“, sagt Alice, und lehnt sich an S. Und: „Platonisch“, sagt auch S, und legt seinen Arm um Alice.

Noch 3 Wochen. „Fährt wieder“, sagt S und stellt den Werkzeugkasten ab. Alice braucht einen Moment, bis sie kapiert. „Du hast mein Fahrrad repariert??“ Alice, peinlich berührt. „Ach“, bemerkt Feh und fixiert S, der ihrem Blick ausweicht. „Wie lieb von dir! Meins ist übrigens auch kaputt, aber das weißt du ja.“

S, der Kümmerer. Der Alice Be-kümmernde. „Großzügig“, bemerkt Alice. Oder nicht? Feh kneift die Augen zusammen. „Groß-kotzig, meinst du wohl.“

Noch 2 Wochen. Feh knallt ein leeres Nutella-Glas auf den Tisch. „Das war fast voll!“ Feh guckt S an. S guckt Alice an. Und Alice guckt auf den Boden. Hunger.

Alice isst nicht. Alice füllt. Der Körper, ein Gefäß. Iss mich. Trink mich. Lieb mich. Aber Alice ist ein Sieb. Unfüllbar. Unliebbar.

Neuerdings rechnet Alice. Ein sich-berechnen ist das, ein sich-zurecht-rechnen. Alice berechnet Kalorien und Verbrennung und Nährwert. Alice wundert sich darüber, dass ihr Körper verbrennt. Alice denkt: Ich verbrenne. Und Alice denkt an ein Inferno, an Höllenfeuer und Flammen, die alles verzehren, alles danach-verzehrende verzehren.

Noch 1 Woche. Feh packt Kisten. Alice isst. Und S freut sich. S hat eine neue Aufgabe: Sorgen, für Alice. Er füllt ihren Teller und füllt etwas in Alice, und es hilft, kurz.

Feh und S streiten. „Hör auf, sie zu füttern!“, sagt Feh. „Das macht sie ganz unglücklich!“ S verteidigt sich. „Was mache ich denn… wer zwingt sie denn…“ Da steht Alice in der Tür. „Niemand zwingt mich“, sagt Alice. Und: „Nicht streiten“, sagt Alice. Und: „Jeder ist sich selbst verantwortlich“, sagt Alice. Und: Am Ende ist man sowieso allein, denkt Alice.

Am nächsten Abend wieder Sofa, Bein an Bein. Platonisch… Als Alice aufsteht, um ins Bett zu gehen, erhebt sich auch S. Im Bad kommen sie sich in die Quere. „Nach dir“, sagt S. Und Alice sagt „Spinn nicht“ und rückt ein wenig zur Seite am Waschbecken, und beide putzen sie Zähne, nebeneinander und jeder für sich. Und dann, als sie sich eine gute Nacht wünschen, höflich, im Flur stehend vor Fehs Zimmertür – geschlossen, dahinter kein Laut –, da legt Alice spontan ihre Arme um S und sagt noch einmal „Gute Nacht“, wie um die Berührung zu rechtfertigen – ich habe einen Grund dich zu umarmen, denn dies ist ein temporärer Abschied – und „Gute Nacht“, sagt auch S, und schließt auch seine Arme um Alice, fest, und dann vergessen sie einfach, einander wieder loszulassen, für Sekunden, Minuten, und ganze Viertelstunden, wie ausgefallen, wie aus-der-Zeit-gefallen. Und erst später, viel später, als Feh sich auf der anderen Seite der Tür in ihrem Bett aufrichtet und zu murmeln beginnt, wie manchmal im Schlaf, zieht S Alice in sein Zimmer, und: Lass mich nicht los, denkt Alice, Lass mich nicht auf dich los.