Treibgut

Alice taumelt. Alice treibt. Boden-los, Halt-los. Sich bindend an Termine und Aufgaben wie Treibholz, immer wieder an-schwimmend und an-strampelnd gegen das Hinabgezogen-werden in einen Strudel aus Unruhe und Angst. Gegen den Zwang, Dinge zu zer-le-gen, zu zer.pflü.ck.en, zu zer sch l a g e n, Dinge und Wörter und sich selbst, die ganze Alice.

Zu Hause drückt sie sich an den Wänden entlang, leise, stets horchend, S ausweichend. Am Ende begegnen sie sich doch; gerade, als ihr Handy in der Hosentasche klingelt. Die Dame am anderen Ende der Leitung klingt reserviert. „… mitteilen, dass die Wohnung anderweitig vergeben…“ – „Na?“, fragt S, lauernd, nachdem sie das Gespräch beendet hat. „Noch immer auf der Suche nach Enttäuschungen?“ Die Genugtuung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ein leiser Triumph, an den er sich klammern kann wie an einen rostigen Anker, an dem sich empor hangeln lässt, zurück in Richtung Oberfläche, Ober-Wasser: Na, habe ich es dir nicht gesagt? Na, siehst du endlich ein, dass es für dich keinen anderen Hafen gibt als diesen? Treffer, versenkt. Im Krieg und in der Liebe, denkt Alice, als sie an ihm vorbei flüchtet, und kann es ihm nicht verdenken.

In der Küche fällt ihr Blick auf die Hausbar. Weine und Spirituosen, aufgereiht über dem Esstisch. Alice fühlt einen Sog im Hals. Trink mich. Sie mag die Süße von Kokosschnaps und Caramel-Liqueur, von Cocktails gemischt mit Sahne und Säften. Aber in letzter Zeit hat sie sich auch an die puren Stoffe gewöhnt, an weiche Whisky-Aromen oder den bitteren Geschmack von Gin.

Plötzlich ist ihre Kehle wie ausgetrocknet. Trink mich. Sie schnappt sich ein Handtuch und wischt über saubere Arbeitsflächen. Fläche, grau gemasert. Lappen auf grau. Kunststoff, grau in grau.

Die Nacht, in der Feh von irgendeiner Firmenfeier nach Hause gekommen war, fällt ihr ein. Betrunken und barfuß, mit blutendem Zeh. Sie hatte Alice und S wachgeklingelt, bevor sie in die Wohnung gestolpert war, schwankend und kichernd. „Feh, wo ist dein Schlüssel?“ – „Keine Ahnung.“ Kichern „Und deine Schuhe?“ – „Keine Ahnung.“ Kicher-Kicher. „Und deine Handtasc – Achtung, du blutest!“ Sie hatten sie aus ihrem Kleid befreit und ins Bett gelegt. „Feh, das ist NICHT lustig. Feh!“ – „Naja“, hatte S bemerkt, während Feh Anstalten gemacht hatte sich aus ihrem BH zu befreien. „Ein bisschen schon.“ Er hatte ein Glas Wasser geholt, weil ihm nichts Besseres eingefallen war, während Alice Fehs Zeh untersucht hatte. Feh hatte das Glas entgegen genommen und es sich kurzerhand über den Kopf gekippt, in einen erneuten Lachanfall ausbrechend, bevor sie, immer noch glucksend, in das nasse Laken gesunken und eingeschlafen war. Am nächsten Tag hatte sie sich an nichts mehr erinnert und war umher geschlichen, nervös und schreckhaft, wieder einmal bemüht Gedächtnislücken zu schließen, die ihr neuerlich jedes Gefühl von Autonomie und Selbstsicherheit genommen hatten. Alice aber war beeindruckt gewesen von diesem immer gleichen Rausch-Effekt, der sich bei ihr selbst nie einstellen wollte. Wie herrlich, hatte sie gedacht, Erinnerungen auf diese Weise loszuwerden – zuverlässig und schnell.

Wieder meldet sich der Sog in ihrer Kehle. Trink mich… iss mich… füll mich – „Konzentrieren Sie sich auf den körperlichen Aspekt Ihres Verlangens“, hatte Dr. Psych gesagt. „Wo sitzt es? Wie würden Sie es beschreiben?“ Alice schließt die Hände noch fester um den Lappen. Mein Verlangen ist ein gottverdammtes scheiß schwarzes Loch.

Neben dem Herd stößt sie auf eine Packung Kekse. Darin raschelt es schwer. Verheißungs-voll, denkt Alice. Ein Füllen verheißend… Kurzerhand schleudert sie die Packung samt Inhalt in den Müll und wendet sich ab. Iss-mich-Wut. Dann dreht sie sich wieder um. Schuldbewusst, im Gedanken an S. Sie bückt sich und fischt den zerdrückten Karton wieder heraus. Sein Inhalt liegt zu Bruch gegangen im Müll, zuoberst zwischen Kaffeesatz und fauligem Obst. Die Verpackung ist an einem Ende aufgeweicht. Etwas Fettiges, Flüssiges benetzt ihre Finger, als sie die traurigen Reste heraus schüttelt. Keks-Bruch. Regel-Bruch. Bruch-Schokolade. Sie stopft alles zurück in den Eimer, tief, begräbt Kekse und Scham unter einer Schicht aus Abfällen.

Ihre Lunge meldet sich. Doch die letzte Zigarette ist kaum eine halbe Stunde her. Hilft nicht, denkt Alice. Rauchen, trinken, laufen…Schutz-Strategien“, hatte Dr. Psych gesagt. Schutz vor Spannungs-Zuständen, vor Emotionen, drängend und drückend. „Nützlich, aber mitunter schädlich.“ Doch eine Lösung, eine sinnvolle Alternative kannte er nicht. Letztlich war alles nur Kompensation, alles nur Vermeidung. „Aushalten“, hatte er gesagt und sie unbewegt angesehen. Aus-halten. Wenn sich dir die Kehle zuschnürt. Wenn andere Menschen bedrohlich nahe rücken. Wie BB. Wie S. Aber Dr. Psych hatte nicht gewusst, was Alice wusste. Alice hatte eine Lösung gekannt. Ihre eigene, einzige: Auf-Lösung.

Sie beginnt wieder zu scheuern. Ihre Fingerknöchel treten weiß hervor. Finger auf Lappen. Klauen-Finger waren das, lang und dünn. Klauen, Kratzen, Krallen…

Ein Satz kommt ihr in den Sinn – ein Wrackteil, nach oben getrieben und angespült aus dem Meer der Erinnerung – Ein Aufflackern, Gedanken-Riss und Gedankenwetterleuchten hinter Schläfen, pochend: „Sie stutzen Ihre Krallen. Wissen Sie, was das bedeutet?“

Alice sieht hinab auf ihre Hand über dem Lappen, der jetzt aufgehört hat zu arbeiten. Auf Nägel, lang und geschliffen, anders als damals. „stutzen Ihre Krallen … was das bedeutet?“

Die Worte hatten sie überrumpelt. Zu persönlich, zu intim für den Anlass ihres Gesprächs. Professionalität vermitteln, so lief das, das wusste sie, und das konnte Sie, kein Problem, hatte sie geglaubt. Doch BBs Frage hatte sie aus dem Konzept gebracht. …stutzen Krallen… was das bedeutet? Reflexartig hatte sie die Finger in ihre Fäuste geschoben, die abgekauten Stummel verbergend. …was das bedeutet?

Ein Ziehen in der Brust. Brust-Sog. Alice lässt den Blick weiter wandern, von den Fingern zum Unterarm. Zu der verheilten Haut unter dem zurückgeschobenen Ärmel. Und schließlich weiter zur Besteck-Schublade, flackernd, nur um sofort zurück zu huschen. Messer, Nadel, Schere, Licht – Alice schließt die Augen.

Wann haben Sie das getan?“, hatte BB gefragt und ihren Arm umfasst, bevor sie ihn zurückziehen konnte, erschrocken, in kaltem Entsetzen. Doch seine Hände waren warm gewesen. Seine Stimme sachlich, frei von Abscheu oder Ekel, frei von hilfloser Bestürzung und peinlichem Mitgefühl. BB klang… interessiert. Interessiert an ihr, Alice. Er hielt ihren Arm, ihr Handgelenk mit der Linken umschlossen und die Rechte auf ihren Unterarm gelegt, auf die blassen, feinen Linien, Hand auf Haut, liniert, und sah sie an, aufmerksam – sah sie an und zeigte Interesse, an Ihr. Und plötzlich war da diese Schleuse aufgegangen und hatte ihre Brust geflutet, und Alice, die sich nicht auskannte mit dieser Flut, in der sie bald um sich schlagen und, sich selbst er-tränkend, dem ausgeworfenen Netz zu entkommen versuchen würde, (aber vielleicht hätte das Wissen um Gezeiten und Netze gar nichts daran geändert, vielleicht hätte sie sich trotzdem in die Strömung geworfen, sich mitreißen lassend von den abwärts-Strudeln, tauchend und forschend nach Schätzen und Trümmern, ein Tiefsee-Teufel, wühlend im Schlamm, denn sie, Alice,) hatte in diesem Moment, Hand auf Haut, etwas gespürt, das sie vergessen hatte. Etwas, das sie nie für sich nutzen, nie gebrauchen konnte und dann verworfen hatte, bis es ihr wieder einfiel, ihr Hand auf Haut wie Salzwasser von den Augen, von Schuppen-blinden Augen fiel, in jenem Moment: ich bin ok.