Leser und Fährte

Rück-Blick (Absol 0)

Die Bahn ist gut gefüllt. Menschen, Jacken, Mützen. Ein Scharren und Schniefen. Dein Kopf lehnt am Fenster. Arbeitsmüdigkeit. BB-Müdigkeit. BB ist überall. BB über allen. BB kann, weiß, kennt, will: alles. Du bist… gläsern. Du bist… durch-schein-end. Du atmest tief durch. Du atmest tief. Und bald immer tiefer.

Du atmest. Aber du fühlst keine Luft. Du wirst bewegt. Aber du bewegst dich nicht. Du liegst in einem Sarg aus Glas. Schritte im Schnee knirschen. Und knirschend drehst du den Kopf. Und blickst durch gläserne Wände in ein feistes Grinsen. BB grinst. BB bückt sich. BB setzt die Schaufel an. Und BB beginnt zu graben.

Ein Ruck reißt dich aus dem Schlaf. Die Bahn wechselt ratternd das Gleis. Menschen schwanken, suchen Halt. Dir gegenüber ein letzter freier Platz. Ein Mann schiebt sich an den Stehenden vorbei und steuert darauf zu. Als er sich setzt, streift dich sein Mantel. Und zugleich ein vertrauter Geruch. Kommt und streift deine Nase, als sanfte Welle, streift und nimmt Raum. Erfasst dich ganz und legt sich auf deine Zunge, feinherb und grasig, rauchig und samtweise beißig, alt-modrig, alt-modisch. Verbrannter Tabak. Pfeifentabak.

Du drehst den Hals, hin zu dem Mann. Tabakfährte. Du atmest ein. Ferngedenkt, ferngelenkt. Bilder tauchen vor dir auf. Ein Puppenwagen aus Korbgeflecht. Ein stoffbezogener Lampenschirm. Eine Blechdose mit Zinnfiguren. Das hin- und her schwingende Pendel einer Standuhr. Unter-Bilder. Nicht zuordenbar. Nicht verortbar.

Der Fährtenmann zieht eine Zeitung aus dem Mantel. Du beobachtest, musterst. Grau meliertes Haar. Grau melierter Bart. Du denkst: Sieht ein bisschen aus wie dieser eine… dieser bekannte… oder? Du siehst genauer hin. Nein, doch nicht. Aber ehe du dich abwenden kannst, schaut er auf. Deine Augen flackern, huschen zur Seite. Zu spät. Schon ruht sein Blick auf dir. Du spürst die Röte im Gesicht. Und von irgendwoher aus dem Gedächtnis summt sich eine Melodie in dein Ohr.

Liebes Fräulein, ich möchte mich zu dir setzen und mit dir gern ein paar Sätze wechseln / um dir zu erklären, dass wir zusammen gehören…

Auf welcher Playlist war das? Auf welchem Album?

Endlich wendet der Fährtenmann den Blick ab und vertieft sich in seine Zeitung. Du schielst auf das Titelblatt. Regional oder überregional? Nur nicht die Bild, denkst du. Und kommst dir sofort albern vor.

Gestatten, mein Name ist nicht von Belangen, wichtig ist nur, ich bin nicht wie die anderen / Ich führe dich voll und ganz bei unserem Tanz…

Der Mann liest. Du betrachtest die schneebedeckte Landschaft vor dem Fenster. Fabrikschlote. Bahnübergänge. Die Berge in der Ferne. Schöne weiße Welt, denkst du. Weiße Welt, weiße Weste. BBs Weste. Deine Weste. Welt unter Teppich. Weiß wie Schnee, rot wie…

Da meldet sich dein Finger, pochend. Du legst die Handschuhe auf dem Schoß ab und inspizierst deinen Daumen. Ein feiner roter Schnitt zieht sich über die Fingerkuppe. Spaltet Haut und färbt sie rot. Papierschnitt. Kantenschnitt. Kopierpapierkantenschnitt. Wieder in der Traumwelt gewesen, ja? Ist das Kopieren zu schwer für dich, ja? BBs Echo hallt in deinem Kopf. Gedanklich drehst du die Musik lauter. Ohrwurmfutter.

Ich bin kein bekannter Herzensbrecher, kein verkappter Schwerverbrecher / Sondern ein Charmeur, mit einem heißen Flair …

Dein Blick gleitet über die Zeitung vor dir. Beinahe überragt sie dein Knie. Zeitungsdecke, denkst du. Zeitungsdeckmäntelchen. Die Hand, die die Zeitung hält, ist nur Zentimeter von deinem Knie entfernt. Ehegoldberingt vor Schwarzbestrumpft. Und doch: Abstand überwinden undenkbar. Das Städter-Paradoxon: je näher, desto fremder.

Ich bin kein Millionär, kein Schauspieler und Schwindler / Ich habe keine Hobbies, bin ausschließlich für dich da / Alles, was –

Als etwas dein Bein berührt, zuckst du zusammen. Ein Fingerstreif? – Nein, Fingerstups. Ein Fingerstreifstups an deinem Bein. Einbildung? Ein Versehen? Deine Augen gleiten über Hand, Zeitung, Mann. Ein Impuls, vielleicht? Zwei Fremde, auf der Suche nach Nähe… Der Gedanke macht dich lächeln. Du lächelst entrückt… verklärt, verzückt.

Zu spät bemerkst du, dass er dich beobachtet. Dich fixiert – nein, taxiert. Beim Entrücken taxiert. Rasch senkst du den Kopf, den Hochroten, und beißt dir auf die Lippe. Bis es weh tut. BB hat recht, denkst du. Zu viel Phantasie.

Alles, was ich geben kann, ist unendlich und lebenslang, ein Konzentrat aus Liebe / Es muss was Wund –

Da, ein zweiter Stoß. Du hältst den Atem an. Kein Versehen. Du beobachtest ihn aus dem Augenwinkel. Er liest. Scheinbar vertieft. Täuschung? Aber der Abstand zwischen Hand und Bein… gering, geringer, nichts.

Und wieder. Jetzt geht ein Stromstoß durch deinen Körper. Geht vom Bein aus und elektrisiert dich ganz. Ein Kribbeln. Kein Zweifel mehr. Der Fährtenmann berührt dein Bein. Unendlich leicht. Unendlich sanft. Kaum spürbar. Ein Finger, nur. Berührt… und bleibt. Und beginnt zu streichen. Auf und ab. Mit aller Vorsicht. Er streichelt dein Bein. Langsam. Zärtlich. Auf und ab. Behutsam. Liebevoll. Auf… zum Knie, zum Rocksaum. Und ab… zur Wade.

Du rührst dich nicht. Deine Lider zucken, im Herzklopftakt. Menschen sitzen, stehen, atmen noch immer dicht an dicht. Niemand beachtet euch. Zeitungsverborgen ein Auf und Ab. Du entspannst dich. Du löst dich. Vom Scharrenden und Schniefenden, vom euch Umgebenden. Schau ihn nicht an, denkst du. Schau ihn nur nicht an. Du schließt die Augen. Schließt Augen und genießt. Bahn rattert.

… muss was Wunderbares sein, von mir geliebt zu werden / Du bist für immer mein, auf dieser schönen Erde / Mit mir tanzt sich’s schön durch’s Leben, es kann wohl nichts schön’res geben / Es muss was –

Unvermittelt zieht sich die Hand zurück. Dein Kopf fährt hoch. Enttäuscht. Unzufrieden. Weiter streicheln, quengelt eine Stimme in deinem Kopf, kindlich und trotzig. – Kindlich und trotzig? Verwirrt schüttelst du das Stimmchen ab.

Vor dir Geraschel. Es wird umgeblättert. Umblättern… Ausbreiten… Gleich darauf ist die Hand wieder da. Du sinkst zurück. Erleichtert. Wohlig. Umgebung löst sich auf. Station um Station. Und auch Musik zerfällt.

Romantische Stunden… Bisswunden / … Höllenritt… zu dritt / … Liebe kund… Ball im Mund /… muss was Wunderbares…

Wieder wird das Streicheln unterbrochen. Als die Hand nicht zurückkehrt, blickst du auf. Ein Handschuh ist dir vom Schoß gerutscht. Der Fährtenmann faltet die Zeitung zusammen und bückt sich. Mit einem leichten Kopfnicken überreicht er dir den Handschuh. Ruhig. Gelassen. Souverän. Du zwingst dich ihn anzusehen. Mit glühenden Wangen. Du bedankst dich. „Danke“, bedankst du dich. Deine Zunge schwer. „Bitte“, erwidert er. Die Stimme ruhig. Galant. Doch im Blick Feuer. Ein Funkeln. Ein Glühen. Fessel-Blick. Dann: Umblättern. Ausbreiten. Hand wieder da.

…muss was Wunderbares… Wunder… bares… Wun…

Nächster Halt, deine Station. Mit Knien, so weich, stehst du auf. Und wenn er mit mir aussteigt? denkst du. Wenn er mir hinterher…? – „Wiedersehen“, sagst du. Und hoffst, dass es stimmt. Wieder-sehen, irgendwann. Und er: „Ciao.“ Dunkel. Tief.

Und dann stehst du auf dem Bahnsteig, wie betäubt. Benommen, verschwommen. Lichter und Wunder im Tunnel fort. Fährte fort. Und du willst wieder-sehen, und wirst du auch. Wirst wieder gesehen werden von grau meliertem Mann mit Pfeifenrauch, mit Pfeifentabakrauch um sich herum wie in Wunderland, wie Absolem, lehrend und rauchend Rat teilend in Wunderland. Nur wunder. Und ohne Land.