Fidelio

Bei seinem Namen hätte sie sich beinahe geirrt. Ein Irrtum wie eine Nachwehe, nach dem ersten, dem in-einander-Irren, damals.

Fidelio… ob ihm das gefallen würde?

Was, wenn sie ihn anriefe, einfach so. Wenn Alice sich melden würde, „nur mal wieder“, im Plauderton. „Hey, ich kann endlich über dich schreiben (Klammer auf: So richtig jetzt, außerhalb von Träumen und Flashbacks, Klammer zu). Und stell dir vor: Da heißt du wie die Torte, die du so magst. A propros Torte: Wollen wir nicht mal wieder…“

Wie abwegig. Alice schüttelt den Kopf. Sie schüttelt es weg, dieses Was-wenn und  kehrt zurück zu ihrem Was-war.

Fidelio erzählen. Fidelio erzählen war etwas Schweres. Ein schweres Etwas, das die Finger lähmte beim Tippen und den Kopf drückte beim Denken, ein Kummer-schweres schwieriges Etwas. Aber Fidelio war wichtig. Und Fidelio war ein Anfang, um das noch Schwierigere zu schaffen, das von-BB-erzählen zu schaffen, weil das zusammenhing, BB und Fidelio – so, wie die aneinandergrenzenden Glieder einer Kette von Ereignissen zusammenhängen, abgespielt und abgespult in getrennten Sphären, auf entgegengesetzten Polen des gleichen Körpers, des gleichen Magneten – untrennbar und unvereinbar zugleich. Ihr einziger Berührungspunkt ist Alice, ist ein zeitlicher Zusammenfall von Zusammen-Fall.


Heute hab ich im Supermarkt die Kürbisse gesehen. Wir haben oft Kürbissuppe gemacht, du und ich, damals, abwechselnd. Ich bin mit Hammer und Meißel auf den Kürbiskopf losgegangen, und du hast die Abdeckung der Küchenmaschine nicht richtig geschlossen. Wer nicht gekocht hat, musste sauber machen. 

Es war Herbst, unser vierter oder fünfter, als es anfing:


Nach dem ersten Klingeln hob er ab. „Und?“ Im Hintergrund konnte Alice Labor-Geräusche hören. „Wie ist es gelaufen?“ Fidelio, gespannt.

Sie war sofort mit der Neuigkeit herausgeplatzt. „Ich hab die Stelle!“, hatte Alice gejubelt, während sie zur Bahn gelaufen – nein, gehüpft war, das Handy ans Ohr gepresst: „Ich hab die Stelle und der Chef ist total… irre!“


Irre‘. Es hätte andere Wörter gegeben. Eindeutigere, unmissverständliche, wie ‚bekloppt‘ oder ‚gruselig‘. Oder neutralere, verhaltensbezogene Wörter wie ‚distanzlos‘ oder ‚bestimmend‘ (immerhin die Vorstufe zu: ‚beherrschend‘), Wörter über gefühlte Einflüsse, die ihn hätten aufhorchen lassen, ihn alarmieren können – faszinierend‚ durchschauend, beschämend…

A propros beschämend: Was hältst du von Leuten, die von sich selbst in der dritten Person erzählen? (Dr. Psych hat ein paar interessante Ansichten dazu, du würdest ihn mögen… )

Irre‘. Sie war bei dem Wort geblieben. Mehrdeutig, wie ihr Gefühl im Bauch. Und er hatte sich für sie gefreut. Irre. Irr. Ge-irrt.


„Dann haben wir heute Abend ja doppelt Grund zu feiern.“ Seine Stimme klang weich. Alice nickte, obwohl er es nicht sehen konnte, und drückte das Telefon noch fester ans Ohr, hin zu diesem Weichen.

Am Morgen war eine Vase mit Blumen neben ihrem Bett gestanden, und, daran angelehnt, eine Glückwunschkarte. ‚Happy Birthday, du.‘ Da war ein echter Elefant auf der Karte gewesen (so wie der, den sie so gerne heraufbeschworen, an jedem Geburtstag, bei jedem kleinen Geschenk, wenn Schächtelchen geschüttelt und Päckchen betastet wurden und der Beschenkte nie müde wurde zu wiederholen: „Das ist bestimmt der echte Elefant, den ich mir gewünscht hab – ich weiß es, diesmal ist es der Elefant…“).

Der Karte war ein Tablett gefolgt, das er, schon in Jacke und Schuhen, hereingetragen und auf ihrem Schoß abgestellt hatte, vorsichtig, damit der Kaffee nicht umfiel und die Kerze nicht ausging – die Kerze, schief, auf einem Muffin, die gebrannt hatte und die Alice noch auspusten durfte, zu seiner und ihrer Freude, bevor er – die reine Freude – in den Tag geeilt war, „Viel Glück für später, du.“, rufend, noch.


Das ‚Du‘ war eine Marotte von dir gewesen. Du hattest dir angewöhnt, es anzuhängen wie einen Namen, das ‚Du‘ genau wie meinen Namen zu gebrauchen: Bei dir war ich nicht Alice, sondern ‚Du‘, wie großgeschrieben.

Alles hatte in diesem Wort gelegen. Alles Gute und Zugewandte und Schöne, untrennbar mit dem Gesagten verbunden: Happy Birthday-Du. Ich freu mich-Du. Ich lieb dich-Du.

A propros ‚groß geschrieben‘: Hast du eigentlich die Briefe bekommen, die ich dir…?

Alice zwickt sich in den Arm. Erinner-dich. Erinner-mich. Ein Erinnern war immer aus der Ferne. Ein Erinnern war ‚Er‘, und nicht ‚Du‘. Das ‚Du‘ hatte im Jetzt keinen Platz. ‚Du‘ – ein Name wie eine Brücke, als wären sie noch zwei Gegenüber, eine Kluft überbrückend, Augen auf gleiche Höhe hebend zurück – ‚Du‘, als gäbe es auch noch ein ‚Wir‘ dazu…


Im Grunde schiebt sie dich nur vor, um nicht von BB zu erzählen. Merkst du das? Offenbar tut sie alles, um dem von-BB-Erzählen zu entgehen. Aber es gibt keine Geschichte über ihn ohne dich, und umgekehrt.

A propros ‚ohne dich’…


In ihrer Erinnerung gehört ihm die Farbe blau. Blau umgibt ihn wie Wasser, und blau trägt er, wie man einen Namen trägt. Von diesem Blau wollte Alice erzählen, in seinem Namen. Ein Name wie Azur oder Atlas müsste es sein, hatte sie gedacht Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt auf seinen Schultern, und zugleich der König von Atlantis; so viel wusste Alice. Und so stellte sie ihn sich gerne vor, ihren beinahe-Atlas: stark, umgeben von Meer, blau, ozean-blau wie die Farbe, seine Farbe. Aber tragend und gebeugt, unter einer Last…?

Glücklich. Du warst immer so glücklich.

Und so geriet Alice ins Stocken. Gerade, als sie den Namen schon vergeben hatte – als sie ihn Atlas zu nennen im Schreiben schon begonnen hatte, geriet sie ins Stocken und das Vergeben, das Namentliche, misslang.

Als gäbe es eine Wechselwirkung im Vergeben von Namen und Dingen: wie das eine nicht, so auch das andere nicht – als gäbe es auch einen fairen Wechsel im Geben und Nehmen allgemein, im Ver-geben und Lauf-nehmen: Mal nimmt man, und mal wird man genommen…


Nur einmal hatte sie ihn gebeugt gesehen. Das war bei ihrer letzten Begegnung. Da war er ein eingesunkener Rücken, zurückzuckend vor jeder Berührung. Da war er ein Hinterkopf, in den Händen vergraben, zu Boden gezogen von unsichtbarem Gewicht. Kein Held. Aber ganz Mensch.

Und als Alice sich jetzt noch einmal nach ihm umdreht, nach damals, nach vor ihrer letzten Begegnung, merkt sie es selbst: Er ist es nicht. Ist kein Atlas, tragend und starr, nur ein Reisender über den Atlas, rege und wendig, lebendig wie ein Fisch. „Verzeihung“, sagt sie deshalb jetzt zu ihm im Erinnern, im erneuten einander-Entgleiten, „Verzeihung, ich hab mich getäuscht.“ Und der Name verblasst und weicht einem neuen, als Alice sich schreiben sieht:

Du warst die reine Freude. Fidel. Fidelio.

Und ins Azur- und Atlas-blau mischt sich jetzt auch das grün des Aquariums, ein Fidelio-grün, sich ein-mischend, schimmernd und voller Licht, und als Alice hineintaucht in dieses Schimmern, wird das Damals wieder zum Jetzt, wird Präsens und wird, gefühlt: Die reine Freude. 


Im Strom

Das Wasser kräuselt sich an der Oberfläche, an der jetzt Flocken gepresster Nahrung treiben wie zerpflücktes Buntpapier. Schnappende Mäuler streben nach oben und machen sich über ihre Beute her, die langsam in Richtung Boden sinkt.

Fidelio schraubt die Futterdose zu. „Es sind fünf, siehst du?“ Sie gehen in die Hocke, um von vorne durch die Scheibe zu spähen. „Gerade geschlüpft…“ Er fährt mit dem Finger das Glas entlang, mehreren winzigen Punkten folgend. Auf seinem Gesicht liegt ein zärtlicher Ausdruck. Gelöst. Weich. Unbeschwert.

Alice späht in das Dickicht aus Gräsern und Wurzeln. Die Jungen sind durchsichtig-grau, unbeholfen noch, Schwanzflossen-schlagend und zuckend bemüht den übrigen zu folgen. „Und?“, fragt Fidelio, ohne den Schwarm aus den Augen zu lassen. Alice überlegt. „Der hier sieht aus wie ein Emil, findest du nicht?“ Sie zeigt auf den Fisch an der Spitze, der etwas größer ist als seine Geschwister. „Ein richtiger Anführer.“ Fidelio nickt. „Ein Emil also, und vier Detektive.“ Der Schwarm umrundet eine Pflanze und sie legen unisono die Köpfe schief, um mit den Blicken zu folgen. Gute Namen.