„Sag es“, fordert Absolem. „Was habe ich dir beigebracht?“
Ich schließe die Augen. Das Herz ist ein tiefer dunkler Wald, denke ich. In dem man sich verirrt, verliert, verfängt. Aber der Geist ist ein Schloss. Gemacht um zu wandeln, zu staunen, Schätze zu sammeln.
Und schon laufe ich in Gedanken durch weite Korridore. Vorbei an Türen, Erkern, Marmorsäulen. Manche Wege verschlossen oder versperrt durch eingestürzte Wände, halb zerfallene Mauern, fehlende Stufen. Vergessenes Wissen. Ich trete unter einem schwankenden Kronleuchter beiseite. Gefährliches Wissen. Weiche meinem goldgerahmten Spiegelbild aus. Unliebsames Wissen. Schließe im Vorbeigehen einen Spalt zwischen den Vorhängen, ihr Samt blutrot an meinen Händen. Verdrängtes Wissen. Betrete den Eingang zum Turm und steige eine steil gewundene Treppe hinauf. Schlummerndes Wissen. Oben eine Kammer. Sonnenlicht dringt durch die Dornen vor dem Fenster und fällt auf ein verstaubtes Spinnrad. Die verräterische Spindel ruht auf einem Sockel. Daneben ein einfaches Bett. Erste Sätze... geliebtes Repertoire. Ich nehme ein paar Kissen beiseite, bis ich den Richtigen gefunden habe. Wer könnte besser hierher passen als er: Hundert Jahre Einsamkeit in einer hundertjährigen Schlafkammer. Ihn zu wecken ist so leicht wie sein Schlummer. Ein gedachter Kuss und die Worte sind da. Ich hole tief Luft.
„Viele Jahre später, im Angesicht des Erschießungskommandos, sollte sich Aureliano Buendia an jenen weit zurückliegenden Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, …“
– „Auf spanisch“, fordert Absolem. „Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento…“
Am Ende küsst er mich auf die Stirn. „Gut gemacht, mein Mädchen.“ Nähe atmen. Pulloverwärme atmen. Schmiegsam, biegsam, wollig, warm… Sein Mädchen. Sein.
