Erschöpft lässt sich BB auf das Sofa fallen. „Erzähl mir etwas, Alice. Erzähl mir etwas, das nicht auf der Agenda steht.“
Alice, in Gedanken noch bei der eben formulierten E-Mail, blickt auf. Jetzt erst registriert sie die Dunkelheit, die heimlich über sie hereingebrochen ist. Ihre Schreibtischlampe beleuchtet tapfer den kleinen Raum, während draußen vor dem Fenster flackernd die Lichter eines vorüberfahrenden Wagens durch die Gartenhecke brechen. Kurz erhellen sie einen akurat gemähten Rasenfleck, bevor sie über die stille Wasseroberfläche des Teiches davon zucken. Alice denkt an Fidelio, der längst zu Hause sein muss. Und auch sie würde in Kürze gehen, bald. Aber jetzt noch nicht. Denn jetzt konzentriert sie sich auf das Sofa. Auf den Mann dort im schummrigen Schreibtischlicht, der die Beine von sich gestreckt hat, versunken in sich und den Polstern. Selbst jetzt ging eine Aura der Macht von ihm aus wie ein Sog, dem niemand entkam. Er war gekommen, um zu reden. Mit ihr, Alice. Heiße Freude durchströmt Alice, und ihr wird bewusst, dass sie auf ihn gewartet hat. Dass sie darauf gehofft hat, BB würde erneut kommen, um zu reden. Erzähl mir etwas, Alice… etwas von dir.
Aber was sollte sie erzählen? Ausgerechnet ihm, BB, der so viel mehr wusste, so viel mehr gesehen und erlebt hatte als sie – BB, der Big Boss: erfolgreich, souverän, gerissen – intelligent auf eine Weise, die anziehen und ängstigen konnte in stetem Wechsel, und manchmal auch zugleich – was interessierte ihn an Alice?
In diesem Moment spürt sie seinen Blick, unverwandt scharf unter halb geschlossenen Lidern. Lass mich nicht warten, sagt die Schärfe, gib mir Antwort.
Und plötzlich weiß Alice, was sie erzählen will. Wie von selbst dringen die Worte hervor, stürzen aus Alice heraus in den Raum, bleiben in der Luft hängen wie kleine Leuchtfeuer und werden im nächsten Moment verschluckt – aufgesogen von BB, dem Lauschenden: begierig, trunken und schwer. Und während Alice erzählt, deutet sie auf die Leuchtfeuer, beschreibt ihre Form und Gestalt, bis BB begreift, dass Wörter wie Dinge sind. Dass Wörter Farben und Formen und Klänge haben, die sich im Kopf manchmal zu etwas Lautem, Wildem vermischen, mit viel Gefühltem. Und Alice erzählt, wie man, wenn der Lärm in einem solchen Kopf zu laut werde, Dinge in Listen schreiben müsse, wie man Begriffe in Kategorien teilen müsse, damit sie aufgeräumt wären und laut Gefühltes wieder abschwellen konnte zu etwas Ruhigem, Leisem.
Und dann erzählt Alice auch, wie es ist, manchmal, wenn das Listenschreiben nicht hilft. Wenn man nur auf dem Bett liegen kann, während es im Kopf tobt. Während Worte auf einen einströmen wie Gewitter, Gewitterworte und Gewitterfühlen – so viel, dass man nur – sich-festkrallend an Kissen und Möbeln – die Finger in Bettkanten bohren und Luft-schnappend fieberhaft warten kann, bis alle Wörter und alles Fühlen sich wieder geordnet, sich wieder beruhigt hätte und der Druck gegen die Schläfen endlich nachließe – bis das Toben und Drängen dahinter endlich verstummte, während ein Fidelio beruhigend Worte murmelnd hilft, indem er einen einfach sein lässt, indem er Alice einfach Alice sein lässt, in solchem Moment, und Dinge sagt – tat-sächlich und schlicht, aus dem Sturm gezogene All-tags-Dinge, die genau richtig sind – Dinge wie: Ich bin gleich nebenan-du, und wenn es vorbei ist, dann holen wir uns ein Eis…
Aber dieses letzte, von Fidelio, erzählt Alice nicht. Stattdessen beschreibt sie BB einen anderen, neueren, Fidelio. Den, der sie so komisch ansieht, in letzter Zeit. Den, der aufgehört hat die reine Freude zu sein und sich stattdessen sorgt, um sie, Alice, wie auch ihre Freundinnen vorgeben sich zu sorgen, während Alice, versteht-nicht und gönnt-nicht glaubend sich fragt, ob es nicht noch mehr zu entdecken gäbe als ihre und Fidelios Welt – andere Erfahrungen, andere Ziele… andere Leben – „und vielleicht“, sagt Alice, „vielleicht sogar einen anderen Fidelio.“ Und sie beißt sich auf die Zunge bei diesem Letzten – und doch empfindet Alice Erleichterung, jetzt, da Worte einmal ausgesprochen.
Ein seltsamer Ausdruck hat sich hingegen auf BBs Gesicht geschlichen – Euphorie, ein Leuchten, freudig-erregt. Alice bemerkt das Lächeln, das wissend seine Lippen umspielt, wissend und voller Verständnis, zu viel Verständnis, und das Gefühl der Erleichterung verfliegt. Plötzlich breitet sich ein Unbehagen in ihrer Brust aus und es ist, als wolle es ihr die Kehle zuschnüren.
Endlich wird ihr wieder bewusst, wo sie sich befindet. Wie lange hatte sie gesprochen? Ein Blick auf die Uhr lässt sie zusammenfahren. Sie deutet auf ihren Bildschirm. „Diese E-Mail muss noch…“ BB nickt. Schwerfällig wuchtet er sich aus seinem gepolsterten Sitz und erhebt sich. BB sagt: „Lass mal sehen.“ Er umrundet den Tresen, raum-greifend und Raum-verdrängend, und stellt sich hinter ihren Stuhl, der jetzt schief steht – leicht ver-rückt, die Lehne seitlich –, und halb wartet Alice auf eine Zurechtweisung, auf das Sitz gerade und das Du hast wieder gezappelt, Alice – ich habe dir gesagt, dass du nicht zappeln sollst. Doch BB tritt hinter sie, ohne einen Tadel, den Blick auf ihren Bildschirm gerichtet. „Lies vor“, befiehlt er, und Alice beginnt die Worte zu zitieren, die sie vor seinem Eintreten verfasst hat. „ … freuen wir uns Ihnen mitzuteilen, dass BB Einsparpotentiale auf Personal-Ebene…“ BB tritt einen Schritt näher an sie heran und beugt sich über ihre Schulter. Alice sinkt das Herz. War etwas falsch? Es musste ihr Tonfall sein, der falsch war, wie Alice wusste, denn sie musste sein wie BB, musste klingen wie BB, ein BB-Imitat: sachlich-präzise, mit wahlweise höflicher oder unhöflicher Herablassung – je nachdem, ob der Adressat Auftraggeber oder Dienstleister war. Freundlichkeit dagegen war eine Schwäche. Ihre Schwäche.
Doch BB senkt nur den Kopf näher zum Bildschirm und bedeutet ihr fortzufahren, wobei ein Finger ihren Nacken streift, sanft, wie aus Versehen. Alice spürt ein Kribbeln im Nacken, angenehm, während BB sich noch tiefer über sie beugt, sich über sie lehnt, bis er ihre Schultern berührt. „ … durch Identifizierung der low-Performer in Ihrem Unternehmen –“
BB ist jetzt ganz nah. Sein Atem geht schwer über ihr, sein Bauch drückt gegen ihren Rücken. Alice spürt, wie sie nach vorne gedrückt wird, enger an die Tischplatte heran. „ … mittels Monitoring-Methoden zu mehr Effizienz –“ Im nächsten Moment schiebt sich etwas zwischen ihre Rippen. Bohrend. Drängend. Hart. Alice gerät ins Stocken. „ … zu mehr Effizienz –“ Sie verhaspelt sich und verstummt. Druck. Druckpunkt. „Lies weiter“, sagt BB über ihr, und die Worte kommen seltsam rau, seltsam schleppend aus seinem Mund, als klebten sie ihm an Zunge und Gaumen. Alice möchte BB sagen, dass er etwas trinken sollte – dass BB seinen Gaumen befeuchten sollte, damit sich die Worte lösten und sie ihn besser verstehen könnte – ich verstehe dich nicht, möchte Alice sagen – mach, dass ich verstehe, während das Harte sich jetzt tiefer in ihren Rücken bohrt, anschwellend und durch den Stoff ihrer Bluse hindurch pochend. Alice, geschraubt. Schraubstock-Alice. „ … wird Ihnen BB in einem nächsten Schritt die Ergebnisse der Mitarbeiter-Evaluation…“ Ein Nebel breitet sich in ihrem Kopf aus. Breitet sich aus und legt sich um sie, angenehm, Alice-tragend und Alice-fort-treibend von allem Wollen und Fühlen. „Lauter“, dringt BBs Stimme durch den Nebel, rau – „Ich will dich hören, Alice.“ Und dunkel erinnert sich Alice daran, dass sie gezappelt und ihren Stuhl ver-rückt hat und dass BB das hasste, dass BB Unordnung hasste – und plötzlich wird sie ganz ruhig. Und während sie zu Ende liest – lauter, mit einer Stimme fest und klar, ohne ein Stocken, denkt Alice verwundert, wie seltsam es doch ist, dass ihr Rücken, dieser ganz gewöhnliche Alice-Rücken, dazu dienen kann, dass einer seinen harten Schwanz dagegen presst, ihn zwischen ihre Rippen schiebend wie in ein Gefäß, Alice-bestrafend und Alice-klemmend in einen Schraubstock zwischen Schwanz und Tisch, ohne ein Zappeln. Und dann, am Ende ihrer E-Mail, hört sich Alice fragen, ob sie das so stehen lassen könne, doch als sie sich der Worte bewusst wird, ist es zu spät, und sie spürt BBs Lächeln, als er erwidert, ja, wenn du das so möchtest, Alice. Und Alice denkt an das Gefäß, das Leere, das sie ist – leer ohne das, was BB darin sieht. Nichts. Niemand. Niemands-Alice. Leer und an den Rändern brüchig.
Als Alice an diesem Abend nach Hause kommt, steht Fidelio vor dem Aquarium, die Hände auf den Knien. Er richtet sich auf und lächelt ihr entgegen, mit diesem Etwas im Blick, dem unergründlichen Etwas der letzten Zeit – Fidelio, unsicher? Fidelio, betroffen? Fidelio – wer?
Alice stellt sich neben ihn, beugt sich hinunter und legt ihren Finger an die Scheibe – dorthin, wo jetzt ein kleines Becken im Großen schwimmt, ein schwimmendes Séparée, dicht unter der Oberfläche. Und darin erkennt Alice den Fische-Nachwuchs, den jüngsten, Emil, vorneweg, gefolgt von den vier Detektiven. „Ein Isolationsbecken“, erklärt Fidelio, „Zum Schutz vor den Großen.“ Alice späht zu der hohlen Baumwurzel hinunter, in der der dicke Wels mit den roten Augen lauert, der nur nachts aus seinem Versteck kommt, bereit zur Jagd. Und gerade, als Alice denkt, wie gut es war, ein junger Fisch zu sein, geschützt im eigenen Gewässer, legt Fidelio einen Finger auf ihren, sachte. Und plötzlich hat Alice ihre Arme gehoben und sie um Fidelio gelegt, und Fidelio hält sie fest und streicht ihr über den Rücken und murmelt eine Frage in ihr Haar, die Alice kaum versteht, aber doch deutlich genug. „Und wir?“, fragt Fidelio. „Wann machen wir einen kleinen Emil?“ Alice schließt die Augen. „Oder eine kleine Emilia?“, hört sie noch das Murmeln, dicht in ihr Haar, bevor sie auch ihre Ohren verschließt, so fest sie kann, während ihre Gedanken kreisen um kleine Fische und große Fische und alle zusammen in einem Haifischbecken, in dem am Ende nur der Stärkste überlebt.
Und als Fidelio die Umarmung schließlich löst, hat er keine Antwort bekommen, aber seine Schulter ist nass.
Später in der Nacht, als das Licht im Aquarium längst ausgegangen ist, schlängelt sich ein dicker Wels aus seiner Wurzel hervor. Und wäre jemand dort, könnte er zwei rote Punkte aufwärts zucken sehen, bis zu dem kleinen Becken, das sich ein wenig aus der Verankerung gelöst hat, gerade so weit, dass einer auf der Jagd sich hinein schlängeln kann. Und dann zucken die Punkte rot hin und her und kehren erst nach einer Weile, satt, in ihre Wurzel zurück.
Und am nächsten Tag, als Alice vor dem grünen Schimmern und Schillern steht, suchend, zählt sie fünf Fischköpfe ohne Körper, umher treibend in Isolation.