„Blau oder weiß?“ Alice dreht sich vor dem Spiegel. Sie schlüpft in Jacken und dreht sich. Unverbesserlich, obwohl sie weiß, dass sie zu spät kommen wird, ohnehin schon zu spät kommt, was eine Strafe nach sich ziehen wird – ein Gedanke, der ihr einen kleinen Kick verpasst, der ihr diese leisen Angstschauer über den Rücken rieseln lässt…
– “Weiß“, rät S. Und er macht irgendeinen Scherz, wie er es immer tut, einen Scherz, der sein Gefühl verbergen soll, es sogar vor ihm selbst verbirgt, weil das die einzige Überlebensstrategie ist, wie etwas in S glaubt, das er nicht benennen kann…
Alice greift nach Schal und Geld, doch auf den Stufen im Treppenhaus hält sie inne. Suchend tastet sie ihre Taschen ab. Vergeblich, natürlich, weil das, was sie sucht, oben vergessen auf dem Schränkchen liegt – nein, jetzt nicht mehr, denn da kommt auch schon S daran vorbei und entdeckt und freut sich, dass er nun einen Grund hat, sie zurück zu rufen…
– „Hey!“, ruft S aus dem Türrahmen. Von seiner Hand baumelt ein Schlüsselbund. Alice hastet die Stufen wieder hinauf. Der Bund kommt geflogen und landet auf dem Absatz. Und während sie sich bückt, um ihn aufzulesen, beeilt er sich, ihr noch eine Botschaft mitzugeben, etwas aus ihrer Welt, aus ihrer Geschichtenwelt, an das sie denken soll, das sie an ihn – S – denken lassen soll, während sie – welche Zeitverschwendung – bei diesem grauen Herren – diesem Zeitdieb – ist, und da fällt es ihm auch schon ein…
– „Achte auf deine Stundenblumen!“, ruft S ihr nach, und Alice winkt und lacht –natürlich lacht sie, natürlich honoriert sie das, was für ein kluger Einfall – hatte er es doch gewusst…
Und während S die Wohnungstür schließt, äußerst zufrieden mit sich, ist Alice auch schon draußen, wohlwissend, dass sie zu spät kommen wird und dass es eine Strafe geben wird, und die leisen Schauer, die ihr jetzt deshalb den Rücken hinab jagen, werden später in Bus und Bahn zu Schweißausbrüchen werden, je näher sie ihrem Ziel kommt, aber das weiß Alice noch nicht, denn heute ist Alice leider nicht präsent – bedaure, armes Präsens, heute ohne Alice, und das ist die Chance des Erzählers, sich ans Geschehen zu klammern, sich in geneigten Lettern aus dem Off ins Geschehen zu schleichen, um schließlich aus dem Schrägschatten heraus zu treten und Regie zu übernehmen als Allwissender, als Alles- und Besserwisser.
Alice kichert. Alice frohlockt. „Guck mal“, sagt Alice lockend zu S, der sie beim Schreiben ohnehin stets umgibt und der, sie geschäftig umkreisend, nun augenblicklich näher kommt, da sie diebisch lauernd fragt: „Wie gefällt dir mein auktorialer Erzähler?“ Und S beugt sich über ihre Schulter, sodass er ihren Duft riechen kann und beinahe ihren Hals berührt, während sie sich innerlich schon die Hände reibt –
– „Was soll das?“, fragt S verärgert und wird rot. Und es ärgert ihn noch mehr, dass er rot wird, dass er nicht verhindern kann von ihr aus der Fassung gebracht zu –
– „Lass das!“, unterbricht S wütend und packt ihren Arm, und sie beginnen zu rangeln, und insgeheim macht es ihm Vergnügen ihr so nah zu –
– “Schluss jetzt!“, schreit S drohend und stürzt sich auf die tippenden Hände, die immer schneller tippenden, geliebten Hän-
– „VON WEGEN!“, brüllt S und fällt ihr in die Tasten, aber Alice schnappt sich den Laptop und schlüpft davon und lacht und feixt, während S schimpft und grollt, bis es selbst dem Erzähler zu bunt wird, der sich – pikiert – nun kopfschüttelnd zurückzieht, schützend wieder sich zur Seite duckt und sich selbst ausklammernd zurück ins Off begibt (heraus aus diesem Text, der ihm nun doch recht banal und primitiv erscheint, weshalb er lieber hier verschwindet, schleunigst, jetzt – Adieu).