Am Hang

Klatschnass betritt Alice den Flur. Kleine Pfützen bilden sich auf dem Boden, als sie den Schirm ausschüttelt, als sie Jacke und Schuhe abschüttelt wie den Regen, ab-regnend und Regen-ablegend. Sie hält inne und horcht. Im Innern der Wohnung rührt sich etwas. S, zu Hause.

Die Garderobe ist übervoll. Mäntel, Mützen, Schals… Winter-Souvenirs. Aufgetragen, abgetragen und gelagert. Zurückgelassen und vergessen. Am Ende begraben unter immer neuen Schichten. Vergeblich wühlt Alice nach einem freien Haken, wühlt sich durch den Kleiderhaufen, den Haken-freien. Am Ende knüllt sie ihre Jacke zusammen, holt aus und lässt den Arm in die Höhe schnellen. Das Bündel landet auf der oberen Ablage. Fängt sich dort, ver-fängt sich, gerät ins Rutschen – und fällt. Regen-Fall. Jacken-Fall.

Alice rührt sich nicht. Un-gerührt betrachtet sie das nasse Kleidungsstück zu ihren Füßen. Reglos. Regen-los. Sie schließt die Augen und fühlt. In sich hinein fühlt Alice. Sucht nach einem Gefühl, einem etwas, das es zu fühlen gibt, dass es geben muss, fühl-bar geben muss, und wenn es nur das Wetter ist, der endlose Regen, der einem Wetter-fühlig auf’s Gemüt schlägt, eine Regen-Regung… Doch Alice fühlt. nur ihre Knochen, und die dumpfe Müdigkeit darin.

Müde. Langsam verlagert sie ihr Gewicht nach vorne, in Richtung Jacken-Berg. Kippen. Kappen. Automatisch breitet sie die Arme aus. Ki-p-p- Sie landet weich, auf einem Polster aus Anorak. Haut an Stoff. Wange an Fell. Hängend, am Jacken-Hang. Halb stehend, halb liegend. Eingehüllt in Wolle und Fleece, atmend, Parfum und Motten und Straße atmend, eine Mischung aus S-Geruch und fremd-Geruch und einem Rest Feh-Geruch (dem, noch nicht verflogen, Alice besonders nachspürt, den sie aufnimmt und einnimmt wie Medizin) und nicht zuletzt jenem eigenen, neutralen Un-Geruch, nicht-Geruch, Alice-Geruch.

Und als sich über ihr eine Schicht Jacken löst, ist sie schon eins mit Fasern und Fäden, ist gewebt und gewoben, verwoben unter Kapuzen und Knöpfen, die jetzt herabregnen auf Alice, ein Jackenregen-Segen, Alice be-denkend und Alice be-deckend, sie ins Dunkel deckend, und dämpfend jedes Geräusch, vergraben und verborgen in ihrer Höhle, ausgehöhlt und eingehüllt in Stoff und Stille und Dickicht.

Als sich die Dunkelheit lichtet, hebt Alice den Kopf. Blinzelnd blickt sie in ein freudiges, ein erwartungsfreudiges Gesicht. „Heute kochen?“, fragt S und zupft ihr einen Fellkragen von der Schulter. „Oder Spaziergang zu zweit?“ Er schält sie ganz aus ihrem Kokon und richtet sie auf. Alice rührt keinen Muskel. Schlaff wie eine Puppe kippt sie gegen die Schulter, die S gehört und die nicht einknickt, nicht weicht, Alice-Kopf an S-Schulter. Puppe. Verpuppt. Ent-puppt.

S tätschelt ihr den Rücken und murmelt etwas in ihr Haar. „Wir könnten auch…“ Wir. Das Wort kommt leise, schwillt an, setzt sich fest in Alices Ohr und hinterlässt einen Nachklang, hallend und scheppernd. Wir? Das Blut kehrt zurück in ihren Kopf. Vorsichtig löst sie sich aus der Umarmung. „Heute nicht“, sagt Alice und fühlt ihr Herz klopfen. „Diese ganze Woche nicht.“ Zurückweisung lernen.

S‘ Lächeln verschwindet. Seine Augen flackern. Unruhig. Haltlos. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkt er ohne Orientierung. Alice, entzogen. Doch als Alice eine Hand nach ihm ausstreckt, zögernd, nach dem runden Gesicht, das, sonst so aufgeräumt, jetzt wirr wirkt wie das Haar, das ihm unentwegt über die Schläfen fällt – un-entwegt und un-entwirrt – da schiebt sich eine Wand vor das Flackern in den Augen von S und mit ihr eine Leere in seinen Blick, den ver-wirrten und verwirrenden, irrenden Blick aus Augen, blau, so unergründlich blau, dass sie einem manchmal Gänsehaut machen können, wie auch Alice jetzt eine Gänsehaut spürt in den sich aufstellenden Härchen an ihrem Arm, den S jetzt zurückstößt – mechanisch, steif, wie um zu sagen: wie du mir, so ich dir. Und als Alice jetzt etwas fühlt – endlich – ist es Enttäuschung und Wut, Verletztheit und ein diffuser Schmerz, aber es ist nicht ihr Schmerz, sondern der von S, nicht ihre Wut, sondern die von S, und Alice nimmt alles auf wie ein Schwamm, saugt sich voll mit fremdem Wollen und fremdem Willen, und Alice will sagen, dass es ihr leid tut, aber weiß, dass es zu spät ist, als S einen Schritt zurück tritt, Alice musternd mit ausdrucksloser Mine, verminter Mine. „Sag mal“, meint S mit verändertem Tonfall, während Alice eine Kälte in den Nacken kriecht und kriechend sich ausbreitet über Schultern und Rücken, den Rücken hinab rinnend – ein Regen-Rest vielleicht, ein Regen-Rinnsal –, „warum lasse ich dich eigentlich hier wohnen?“ Und lässig lehnt S an der Wand, an Boden gewinnend zurück auf vertrautem Terrain, sich erhebend, sich über-hebend über Alice, während Kälte in Alice fortfährt zu kriechen und S fortfährt zu sprechen: „Mir fällt nämlich kein Grund mehr ein.“ Und Alice friert, ge-friert unter dem taxierenden Blick von S, der die Wirkung seiner Worte auskostet, verächtlich-überlegen, scheinbar überlegend: Mir fällt nämlich kein Grund mehr ein.