Löwen wecken

S mag Alice. S will Alice. S will Alice für sich. Seine Alice. Die kommt und geht, wie es ihr passt. Die neben ihm liegt, wenn er einschläft, aber fort ist, wenn er aufwacht. Die „so“ angeblich nicht schlafen kann, neben einem, neben jemandem, das fühle sich falsch an, aber blieb sie nicht oft genug fort über Nacht, bei anderen also, ohne ihm davon zu erzählen? So, wie sie offenbar auch sonst aufgehört hatte, ihm Dinge zu erzählen, seit sie miteinander schliefen? Und S flucht und begreift nicht, wie man einander fremder werden kann, je näher man sich kommt, und fluchend zerbricht er sich den Kopf, brütet und denkt und fragt sich, wie Nähe zu halten sei, einzufangen und zu konservieren wie ein ausgestopftes Tier – ja, denkt S, wie ein Tier, das, gejagt und gehetzt, am Ende doch in die Falle gehen muss – wenn man es nur geschickt genug anstellt, denkt S, wenn man seine Karten nur richtig ausspielt

Feh beäugt S misstrauisch. Mit Argus-Augen. Sie umschleichen einander wie die Löwen. Löwen, ein Junges zu verteidigen, denkt Alice. Oder ihre Beute?

Und S schreibt: Wo bist du? S schreibt: Wann kommst du? Und, als Alice nicht antwortet: Vielleicht sollte ich mal die Miete erhöhen?

Scherze ohne Lachen. Späße ohne Spaß. S sagt: „Besser, du würdest…“ S sagt: „Statt dass du einfach mal…“ S sagt: „Sei froh, dass…“

Feh möchte schreien. Feh möchte S die Augen auskratzen. Lass sie in Ruhe!, möchte Feh schreien. Was tust du mit ihr?, möchte Feh schreien. Und schütteln möchte Feh, Alice schütteln, damit die aufwacht. „Merkst du nicht, wie er dich manipuliert?“, fragt Feh. „Merkst du nicht, wie er sich einmischt? Wie gönnerhaft, überheblich, herablassend “ Alice beschwichtigt. Alice vermittelt. Alice wiederholt Sätze mit „meint-es-nur-gut“ und „verstehe-das-schon“ und „für-mich-ok“, bis Feh der Geduldsfaden reißt. „Ja, na klar!“, schreit Feh. „Klar ist es für dich okay! Weil für dich immer alles okay ist! Dich könnte ein Typ doch von der nächsten Brücke schubsen und du fändest es noch okay – würdest dich noch im Fallen dafür bedanken!“ und sie verfällt in eine überspitzte Alice-Imitation, ein Alice-Säuseln: „Vielen Dank für die gute Führung, das war ja so… befreiend!“ Erschöpft lässt sich Feh auf einen Stuhl fallen. „Weißt du was?,“ sagt sie dann, und ihre Stimme klingt plötzlich kalt. „Manchmal glaube ich, du willst es nicht anders. Du willst dich doch von den Typen kaputt machen lassen.“ Und als Alice nun die Fäuste ballt und etwas sagt von „nicht-gönnen“ und „nicht-verstehen“ und „meine-Sache“, da wendet Feh sich ab, und ihr „mach doch, was du willst“ trifft die Wand, aber trifft auch Alice, sticht ihr von irgendwo her gegen die Brust, bevor man etwas unsichtbares zerreißen hört, wie von Papier, das reißt, oder ein Band, das reißt. Und beide tun, als hätten sie es nicht gehört, aber gehört haben sie es doch, und fühlen können sie es auch, das Gerissene, neu und frisch und hässlich gezackt an den Rändern. Und als Feh am Ende dieser Woche – ihrer letzten Woche – geht und ihre Möbel mitnimmt, alles mitnimmt bis auf die Sachen, die sich nicht mehr auseinander dividieren lassen – ob diese Jacke Feh oder Alice gekauft hatte, jener Topf S oder Feh gehörte, wer wusste das schon – da klammert sich Alice an S, der da ist, der immer da ist, und S tröstet und macht ein ernstes Gesicht, ein angemessenes Gesicht, das nichts verrät von dem heißen Glück, das ihn durchströmt, von der Vorfreude auf allein mit Alice, die nur noch ihn hatte, nur noch ihn brauchte, wie sie schon bald erkennen würde, erkennen musste, wenn sie nur erst sah, dass sie einander genügten – wenn sie nur erst begriff, was er für sie war.