Tiere

Alice öffnet die Tür. Draußen in der Dämmerung steht ein Leopard. Ein kunstbefelltes Raubtier mit hochgezogenen Schultern und rot gewetzten Krallen, das Fell vor der Brust gerafft.

Alice blinzelt. Der Leopard tritt einen Schritt nach vorne und das Licht an der Hauswand fällt auf einen Mantel, schwarz und gelblich gescheckt, der eng um den Körper einer Frau geschlungen ist. Ein paar Hände, die langen Finger rot lackiert, halten das unechte Tier über der Brust fest umklammert. Animal print, denkt Alice. Kunst-Fell. Kunst-Frau. Das Fell macht einen weiteren Schritt und jetzt taucht auch ein Kopf ins Licht der Lampe. Einzelne, unnatürlich blonde Locken säumen ein Gesicht wie Wachs, die Züge seltsam glatt unter einer Schicht von Make Up. Frau im Pelz, denkt Alice. Züge-los. Alters-los.

Die Frau lächelt verhalten. Als sie einen Fuß auf die Eingangsstufe setzt, teilt sich der Leoparden-Mantel und zeigt ein helles Paar Stiefel, gehalten von Ösen und Bändern weit über dem Knie. Darüber dünne, netzbestrumpfte Beine.

„Sie haben angerufen?“ Ihre Stimme klingt nach Marlboro. Ihr Akzent erinnert Alice an den Geschmack von Ajvar. An Tokajer und Sliwowitz, der eine weich, der andere ein Kratzen in der Kehle. Rasch tritt sie zurück und die Frau im Fell folgt ihr ins Haus.

Alice führt den Gast durch das Treppenhaus, die Stufen hinauf. Der Flur im ersten Stock wirkt ausgestorben. Das Büro von Mrs. BB ist dunkel, ebenso das von BB Junior. Hier und da schimmert noch das bläuliche Licht eines Notebooks aus einem Zimmer, aber niemand kreuzt ihren Weg.

Am Ende der Treppe klopft Alice an den Eingang zum Dachgeschoss. Die Kleidung der Leoparden-Frau knarzt, als sie dicht hinter ihr zum Stehen kommt. Alice legt das Ohr an die Tür und lauscht – BB telefoniert. Für einen Moment lang stehen sie verlegen zu zweit auf dem schmalen Treppenabsatz. Als die Frau sich eine Locke aus dem Gesicht streicht, taucht sie Alice in eine Duftwoge aus Zitrus-Öl und Eukalyptus. Alice atmet ein. Unwillkürlich dreht sie den Kopf, hin zu der Quelle dieses Dufts. Ihr Blick wandert am Hals der Frau hinab, deren Hände nicht länger ihren Mantel zusammen halten. Knopflos hängt er zu beiden Seiten des schlanken Körpers herab, sein Gürtel lose baumelnd am Bund wie ein Schweif. Doch Alice achtet nicht darauf. Alice blickt auf ein Mieder, übervoll vom gewölbten Ansatz zweier Brüste. Sie wirken wie abgeschnürt, eingeschnürt und nach oben gepresst in eine zerlaufene Form, überquellend über den Rand des Mieders. Blaue Äderchen treten unter der gespannten Haut hervor, verzweigen sich und verschwinden pochend in der tiefen Falte zwischen den Wölbungen. Alice möchte ihnen folgen. Alice möchte berühren, die Frau im Fell berühren. Die Frau ohne Fell. Die Falte zwischen den hohen Brüsten. Das Mieder – ein Kunst-Stück oder Kunst-Stoff-Stück Kleidung aus schwarzem Lack, flüssig glänzend wie feuchte Tinte. Frau, lackiert. Nacht-farben. Nackt-farben. Nackt. Alice möchte den Reißverschluss, der über der lackierten Fläche baumelt, öffnen und alles darin in ihre Hände quellen lassen, Brustwarzen anhebend und betastend. Vielleicht wären sie hart und aufgerichtet, über ledrig braunen Vorhöfen. Oder rosig weich auf großen Tellern, an der Spitze empfindlich. Alice lässt den Blick wieder nach oben wandern. Sie möchte eine Locke des blondierten Haars um ihre Finger wickeln. Möchte die regelmäßigen Gesichtszüge der Frau nachfahren und etwas Farbschicht von ihren Wangen kratzen, um ihr Alter zu erraten. Sie möchte den Augen dieser Frau begegnen, die jetzt vage an ihr vorbei blicken mit diesem verschleierten, diesem Nebel-Blick unter langen, in Pech getunkten Wimpern…

Dann treffen sich ihre Blicke. Und Alice sieht etwas Leuchtendes. Lebhaftes. Augen, ent-nebelt. Ent-künstelt. Frau ohne Pelz. Alice tritt einen Schritt zurück. Einen winzigen, Treppenabsatz-kleinen Schritt, aber er reicht aus. Ihr Lächeln ist verlegen. Schief. Auch die Mundwinkel der Frau wandern nach oben. Lippen, lachend, rot betupft. Alice deutet auf die Tür und verdreht die Augen. Das kann dauern. Das Grinsen der anderen wird breiter, und wird zu einem Kichern. Einem ungeplanten, unvorhergesehenen Kichern. Rasch fährt eine Hand vor den Mund, flach wie ein Schutzschild. Eine Hand mit Krallen, rot gewetzt, vor Zähnen, schwarz verfärbt. Alice denkt: Raubtier, beraubt. Biss-beraubt. Und Alice möchte die Hand beiseite schieben, fort von den glänzenden Lippen. Und fort von dem Fauligen, Verfaulten dahinter, verborgen hinter geschlossenem Lächeln. Es macht nichts, möchte Alice sagen. Es ist mir egal.

Doch dann hören sie, wie das Gespräch hinter der Tür beendet wird. „Herein“, ertönt die gedämpfte Stimme von BB, und sie betreten das Büro.

Er empfängt sie freundlich. „Danke, Alice“, sagt er, doch sein Blick gilt der Leoparden-Frau. Er macht eine Kopfbewegung zur Seite. Die Frau folgt seinem Nicken und verschwindet wortlos im Hinterzimmer. Durch die geöffnete Tür kann Alice das Kopfende der Massage-Liege erkennen. Das frische Handtuch, das sie BB am Nachmittag gebracht hat, liegt ausgebreitet darauf. BB nimmt ein paar Papiere vom Tisch und drückt sie Alice in die Hand. „Bist du so lieb, und legst die Rechnungen auf den Schreibtisch meiner Frau, bevor du gehst?“ Er zwinkert ihr zu. „Bis morgen, Alice.“

Im Treppenhaus erhascht sie einen letzten Blick zurück auf ein Stück Leopardenfell, abgestreift über einer Stuhllehne. „Sechzig Minuten, wie immer?“, sagt die Stimme noch, rauchig, in gebrochenem deutsch. Leise schließt Alice die Tür. Raubtier-beraubt.


Wärst du gerne dabei gewesen, Alice? Oh ja, es hätte dir schon gefallen, dafür hätte ich gesorgt. Aber viel mehr Spaß hatte ich an deiner Gier am nächsten Morgen, der Neu-gier auf deinem Gesicht, unbefriedigt und lodernd. Ich brauchte ihr nur eine Tür zu öffnen, brauchte dir nur die unausgesprochene Frage von den feuchten Lippen ablesen… Was das betraf, so lautete die Antwort: „Kalt. Sie fühlten sich kalt an, Alice. So, wie alle Silikonbrüste.“ Enttäuschend, nicht wahr? Aber nicht so enttäuschend wie deine Reaktion. Wie gern hätte ich hinzugefügt: Willst du mir die Hände nicht wärmen, Alice? Willst du nicht deine Bluse aufknöpfen und mir den Unterschied zeigen…? Aber du hast den Köder nicht geschluckt. Hast nur genickt, ernst und unbedarft. Ich musste also zuerst noch all die schlichten Wahrheiten für dich aussprechen, die du selbst dir nicht eingestehen mochtest – „Vögeln ist ein Grundrecht, Alice. Monogamie ist nicht menschlich, Alice“ –, während ich die Hände über der wachsenden Erektion in meinem Schoß gefaltet hielt, innerlich kochend angesichts deiner zur Schau gestellten Naivität, deiner falschen Zurückhaltung, als wüsstest du nicht, welcher Reiz gerade deshalb von dir ausging – als wüsstest du nicht, dass es in Wirklichkeit kaum etwas Obszöneres gab, als… Unschuld.