Brotkrumen (Märchen III)

Rückblick.

Du spielst Prinzessin. Deine Schwester übt Geige. Es klingt schrecklich schief. Sie ist die „knarzende Tür“ in Hänsel und Gretel. Die Schul-Aufführung wird ihr einziger Erfolg auf dem Instrument bleiben. Aber das wisst ihr jetzt noch nicht.
Ihr habt eine Grenze aus Legosteinen durch das Kinderzimmer gelegt. Ihre Hälfte, deine Hälfte. Deine Hälfte ist voller Spielsachen. Vor dir aufgeschlagen liegt Mio, mein Mio. Du sagst: „In Wirklichkeit bin ich eine Prinzessin.“ Deine Schwester lässt den Bogen sinken. „Du bist eine Nervensäge“, stellt sie fest. „Das bist du.“ – „Doch, wohl“, beharrst du. „Ich bin wohl eine Prinzessin. Und irgendwann kommt mein richtiger Vater und holt mich ab.“ So wie bei Mio nämlich. Dann legst du den Kopf schief. „Deine Geige ist die Nervensäge“, sagst du und kicherst, stolz auf diesen Einfall. Sie verdreht die Augen und nimmt ihr Spiel wieder auf. Sie trifft wirklich keinen Ton.
Da, ein Poltern auf der Treppe. Ihr seht euch an. Alarmiert. 20 Arten zu poltern. 20 Arten von Stimmungen. Ihr seid Experten im Poltern-deuten. Jetzt: drohendes Poltern. Er reißt die Tür auf. „Zimmer aufräumen.“ Kurz und knapp. Die Tür knallt zu. Du schaust an dir herab. Ein dunkler Fleck zeichnet sich auf deiner Hose ab. „Nicht so schlimm“, sagt deine Schwester.
Ihr sammelt Bücher, Puppen, Legosteine vom Boden auf und verstaut sie in Regalen und Kisten. Und jetzt? Der Staubsauger ist unten. Wer traut sich? Schnick, schnack, schnuck. Schere schlägt Papier. Du verlierst. „Immer Papier“, schimpft deine Schwester. „Du nimmst immer Papier.“ Du öffnest die Tür und horchst. Er ist unten. Deine Schwester zieht dich zurück. „Ich hab eine Idee“, sagt sie.
Ihr bastelt Ringe aus Tesafilm. Damit zieht ihr den Teppich ab. Staubkorn um Staubkorn. Doch nach wenigen Zentimetern ist die Rolle leer. „Ich hasse ihn“, sagt deine Schwester. Du denkst an Mio, mein Mio. Und du sagst: „Wenn mich mein richtiger Vater holen kommt, nehme ich dich mit. Aber nur, wenn du nett bist. Und die Geige bleibt hier.“ Ihr Blick wird weich. „Ok“, sagt sie und grinst. Mindestens so schief wie ihre Töne.



Noch immer Prinzessin. „Mädchen, mein Mädchen, sagt Absolem. „Wie geht es meiner Alice im Wunderland?“ Du sagst: „Komm doch und sieh nach.“

Dein Zimmer. Das Flüchtlingszimmer, wie S es noch immer nennt. „Weil du doch auch ein Flüchtling warst“, sagt S. „Auf deine Art.“

Dein Zimmer ist dein Rückzugsort. Vor Feh und S und der Welt. Keinen Mann bringst du hierher. Kein Mann fasst dich hier an. Nur Absolem spielt mit dem Feuer. Grenzübertritt. Bis du weg musst. „Hättest du mich jetzt dort genommen?“ fragst du später. „In meinem Mädchenzimmer, wie du es nennst?“ – „Das Mädchenzimmer hätte mich nicht gestört“, schreibt Absolem. „Aber mich“, stellst du klar. Eiertanz.

Zeitsprung im Kopf. Absolem auf Anfang. Erinnerung an Barocktapete und unbezogene Betten. Stundenweise in schummrigem Licht. Sehnsucht.

„Nein“, entscheidet Absolem mit Endgültigkeit. „Wir hatten unsere Zeit.“ 
Gestohlene Zeit, denkst du. Unter der Zeit. Unter-Zeit.

Und wieder schließt du die Augen und stellst die Zeiger deiner inneren Uhr auf zurück, siehst zu, wie Zeiger erst verharren und Rädchen stockend zum Stillstand kommen, ehe das Getriebe wieder anläuft in entgegengesetzter Richtung – Rückwärts-Uhr – und der Film sich erneut abspult, eure Geschichte sich erneut abspult in umgekehrter Folge – von zuletzt nach davor nach vor-vor – und das erste Bild, als das Band nun stoppt vor deinem inneren Auge – Rück-Blick –, das erste letzte Bild ein bloßer Rücken sein wird, ein bloßer Rücken-Blick, und es wird dein bloßer Rücken sein, wird gewesen sein, wird ihm rück-zu zugewandt gewesen sein, und sein Atem ein Flüstern an deinem Ohr folgend  fort-folgend – im Fortfolgenden.