„Wie findest du es?“ Sie schloss einen Reißverschluss und zupfte die Ärmel zurecht. Langsam richtete sie sich auf.
Ihr Haar hatte sie zurück gesteckt. Wo es sonst über die Schultern fiel, lag jetzt bloße Haut, vom Stoff ausgespart. Alice legte eine Hand über ihr nacktes Schlüsselbein, und die Frau im Spiegel tat es ihr gleich. Sie fuhr mit dem Finger über die schmale Linie, verließe die Spur auf halbem Weg zwischen Hals und Schulter und glitt tiefer, dorthin, wo das Herz aufhörte und der Stoff begann. Darunter zeichnete sich die runde Wölbung ihrer Brüste ab. Herz-hoch. Herz-tief.
Fidelio stand in der Tür und pfiff leise durch die Zähne. Die Frau im Spiegel wirkte älter. Reifer. Wie zweite Haut schmiegte sich der Stoff an ihren Körper, folgte der Silhouette ihres Rückens hinab zur Taille, drängte sich eng an ihren Po und hörte wenig tiefer auf, ein Kleid zu sein.
„Teuer?“, fragte Fidelio und löste sich aus dem Türrahmen. Alice zuckte mit den Schultern. „Ach nein, eigentlich…“ Sie versuchte, nicht an die Zahl auf dem Preisschild zu denken, das noch immer in ihrem Nacken baumelte. Du legst nicht viel Wert auf Qualität, nicht wahr, Alice? Wozu bezahle ich dir eigentlich ein Gehalt?
Als er die Arme um sie schlang, wehrte sie ihn ab. „Nicht“, sagte sie zu Fidelio und machte sich los. „Das verknittert sonst…“
Dieses verdammte Mittelmaß… Überall grassiert der Durchschnitt – überall wuchert die Mittelmäßigkeit und versucht, Menschen wie mich auf ihr Niveau hinab zu ziehen… In deinem Fall, Alice, war es sogar noch schlimmer: Du warst es gewohnt, dich mit Loosern zu umgeben. Mit Menschen, die nichts erreicht hatten und kein echtes Interesse an dir hatten. Die dich nur klein halten wollten, fügsam und bequem. Ich aber war ein Gewinner. Und ich hatte hohe Ansprüche. Niemals gab ich mich mit weniger zufrieden, als mir zustand. Ich sagte zu dir: „Sei ehrlich, Alice: Wie viele deiner Freunde sind Looser? Und dann sieh mich an: Wem willst du folgen?“
Typisiert
Alice stand, seltsam exponiert, in der Mitte des Zimmers. Nervös trat sie von einem Bein auf das andere, während BB sich dozierend durch den Raum bewegte, Alice umrundend und Alice interessiert betrachtend wie ein Ding von Wert, das es zu schätzen galt. Neu-gierig. Wiss-begehrend. Schließlich blieb er stehen. „Wer also ist Alice?“, fragte BB in den Raum hinein, an ein unsichtbares Publikum gewandt. BB, der Bühnen-Profi. „Ist sie ein Teamplayer?“ Er hob die Hände nach Zweifler-Art, wie um zu sagen: Möglich. „Ist sie ein Macher-Typ?“ Er lachte kurz und herzlich amüsiert auf, sodass Alice begriff: Nein, eher nicht. „Oder ist sie eine Visionärin? Analytikerin? Planerin? Und wer ist sie darüber hinaus?“ Er zwinkerte ihr zu und ließ sich auf dem Sofa nieder. „Ich werde dir sagen, wer du bist, Alice. Aber zuerst…“ Er klopfte auf den Platz neben sich: „Zuerst setz dich zu mir und erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß. Zeig mir die Bilder, die in dir wohnen, und erzähl mir etwas von… von Alice.“
Und Alice erzählte. Vom Malen, das wie eine Flucht war, und vom Schreiben, das wie ein Zwang war. Vom war-einmal im Unberechenbarland, und von den Kämpfen danach, erwachsen, im Innern und Außen.
Du warst so… erfrischend. So herrlich unkonventionell. Um mich herum nichts als Karriereknigge-versierte Arschkriecher – und dann du: Die kleine Alice, ganz versunken in ihrer Traumwelt aus hübschen Bildchen und Geschichtchen… Ja, so gesehen warst du tatsächlich etwas Besonderes: Eine willkommene Abwechslung. Ein Experiment, wenn man es so will: das Küken, das ich erziehen musste, damit es sich in der Realität zurecht fand. Und warst du nicht wirklich wie eine Tochter für mich? Lag es da nicht in meiner Pflicht, dir zu helfen? Dich wachzurütteln und ins echte Leben zu führen – um deinetwillen?
„Wer willst du sein, Alice? Wer willst du werden? Wärst du nicht gerne wie ich? Wärst du nicht gerrne erfolgreich, selbstbewusst und angesehen? Sieh mich an, Alice. Sieh mir in die Augen. Ich kann Menschen verändern. Ich kann dir Dinge zeigen, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst. Glaubst du mir das, Alice? Glaubst du mir, dass ich etwas aus dir machen kann? Vertrau mir, Alice. Willst du mir vertrauen? – Sehr gut, Alice. Vertrau mir.
Ich konnte dir die Sehnsucht vom Gesicht ablesen: Du wolltest in Abgründe schauen und sehen, wie die Menschen wirklich waren. Du wolltest wissen, wie sie sich steuern und verändern ließen. Du warst so hungrig, Alice… Nach außen hin unschuldig und naiv – das liebe Mädchen, ängstlich darauf bedacht zu gefallen… Aber in Wahrheit wolltest du die Welt ficken. War es nicht so, Alice? Wolltest du nicht auch die Menschen lenken und beherrschen, wie ich es tat? Wolltest du dir nicht auch endlich nehmen, was dir vom Leben zustand?
Du brauchtest nur jemanden, der dich führte. Jemanden, der all das aus dir heraus kitzelte, was kleinliche Moralvorstellungen und falsche Scheu dir verboten… Deinem Handeln lag zugrunde: „I’m a bitch, but I act like a virgin.“ Ich aber brauchte: „I’m a bitch, and I act like a bitch.“ Um für mich zu arbeiten, musstest du autonomer, selbstbewusster und freier werden, als du es jemals gewesen warst. Ich machte dir klar, dass du es schaffen konntest, wenn du bereit warst mir zu vertrauen – wenn du bereit warst, alles bisher Gelernte zu vergessen und noch einmal ganz von vorne anzufangen…
Und Alice beginnt, sich aufzurichten. Sie richtet sich auf und geht, gehalten von unsichtbaren Fäden, durch den Tag, begleitet von einer Stimme, die analysiert und psychologisiert, die polarisiert und repetiert, und die an alles ihren Namen hängt, bis die Stimme untrennbar mit dem Denken und Handeln von Alice verbunden ist, und Attribute mit ihrem Namen verschmelzen, darin aufgehend wie Wachs im Feuer – Etwas-Besonderes-Alice. Tochter-Alice. Vertrau-mir-Alice.
Rock und Bleistift
„Ah, Alice.“ BB saß in seiner Lounge unter dem Dach. Er nahm ihr die Dokumente ab und legte sie beiseite. „Bitte, nimm Platz.“. Sie steuerte einen Schemel nahe der Tür an, als BB sie zurück pfiff. „Alice, verdammt, möchtest du, dass ich mich heiser schreie? Komm näher, ich beiße nicht.“ Sie machte kehrt und versank in einem Sessel ihm gegenüber.
Den Notizblock hatte sie bei sich, diesmal. Doch die Mine ihres Bleistifts war abgebrochen. Verdammt. Sie würde so tun müssen, als ob sie schrieb, damit er es nicht bemerkte… aber wenn er ihre Notizen am Ende sehen wollte… Doch BB machte keine Anstalten zu diktieren, sondern sah geistesabwesend vor sich hin. Ein Bein hatte er von sich gestreckt, das andere angewinkelt. Seine Arme ruhten schwer auf der Sitzlehne. Unauffällig ließ sie den Stift zurück in ihre Rocktasche gleiten. Als sie aufsah, musterte er sie schweigend. Sie öffnete den Mund und setzte zu einer Frage an, doch mit einer Handbewegung, unwirsch, brachte er sie zum Verstummen. Alice legte die Hände in den Schoß und betrachtete ihre verschränkten Finger. BB, bohrend. Prüfend. Langsam begann sie zu schwitzen. Sie öffnete ihre feuchten Handflächen und strich über ihren Rock. Er war etwas länger als der letzte, dieser Rock, aber immer noch kurz. Zu kurz? War auch er ‚jenseits von Gut und Böse‘? So, wie der andere, neulich, als BB, Augen-zwinkernd, ihr gedroht hatte, er werde ihr die Kleider persönlich lang ziehen, wenn…“ Sein Oberkörper fuhr so schnell in ihre Richtung, dass Alice zusammenzuckte. Sofort wurde sie rot. BB fragte: „Mache ich dich nervös, Alice?“ Alice fühlte Ärger in sich aufsteigen. Steif bewegte sie den Kopf auf und ab. Natürlich. Natürlich machte er sie nervös. BB nickte bestätigt. Mit einem Lächeln, das sie noch nicht kannte – wehmütig, fast – ließ er sich in den Sessel zurück sinken und verfiel erneut in Schweigen. Was dachte er über ihrer Reaktion? War das gut? Oder schlecht? Alice richtete den Blick wieder auf ihre Hände. Hände auf Rock. Rock auf Knien. Plötzlich hatte sie das starke Bedürfnis, den Rock in die Länge zu ziehen. … werde deine Kleider persönlich langziehen, wenn… Im nächsten Moment fuhr sie erneut zusammen. Eine Hand hatte sich um ihren Arm geschlossen, und der Rocksaum entglitt ihren Fingern. BB war jetzt nah. Sie nahm seinen Geruch wahr, teuer, während er sie aus Augen, schmal, fixierte. „Nicht zupfen“, sagte BB, ohne seinen Griff zu lösen. „Ich mag es nicht, wenn du zupfst. Hast du das verstanden?“ Alice fühlte ihr Herz klopfen. Alice nickte. Noch immer hielt er ihr Handgelenk umfasst. Alice sagte, ja. Ja, sie hatte verstanden. Sein Gesicht entspannte sich. Er lächelte und ließ sie los. „Danke, Alice, das wär’s dann. Schließ bitte die Tür, wenn du gehst.“ Er wandte sich wieder seinen Dokumenten zu. „Und wenn ich noch einmal mit abgebrochenem Bleistift sehe… aber ich bin mir sicher, du achtest künftig besser auf die Werkzeuge deiner Arbeit. Alles andere wäre Verschwendung meiner Ressourcen.“