(I)
Die Flüchtlinge bevölkern das Hallenbad wie Schwärme ausgezehrter Vögel. Kein Nest, keine Federn. Immer zusammen, immer eins. Diffuse, konturlose Körper. Der Einzelne ist nichts, verliert sich in der Masse. Sie pflügen durch das Nichtschwimmer-Areal, ungelenk. Halb watend, halb sackend. Treiben auf bunten Styroporschlangen umher und sinken gen Grund wie Steine, ohne Halt, aber sich wehrend. Ungeduldig, gehetzt, ruhelos. Nichts Fließendes in ihren Bewegungen. Sie werfen sich in das Element und kämpfen es nieder, getrieben von dem Drang den Feind zu besiegen, der sie unter-drückt, abwärts drückt auf den Grund des Beckens, Grund ihrer Existenz. Existenz-Not. Notstand. Standbein. Aber sie geben nicht auf, streben weiter an die Oberfläche, ein treibendes Kollektiv – und am Ende kämpft doch jeder für sich allein. Manche bewegen sich strampelnd vorwärts, verzweifelt strampelnd, andere sitzen am Beckenrand und studieren die Bewegungen der Routinierten. Kraulen, kraulen, fließen – vorbei. Kraulen, kraulen, fließen – vorbei. Theoretisches Wissen. Danach umso entschlossener. Werfen, strampeln, sacken.
Ich weiche aus. Schüttle Wasser aus den Haaren. Schirme die chlorgeröteten Augen ab. Bemüht um eine Teilnahmslosigkeit, die unangebracht wirkt, kleinmütig und banal. Wenn sie, die Vögel, da sind, wird das Becken zum offenen Mittelmeer. Verschwommene Bilder tauchen vor mir auf wie Fluchtpunkte am Horizont. Kenternde Boote, schreiende Kinder. Theoretisches Wissen. Aber die Perspektive passt nicht. Ich bringe sie nicht zusammen. Die Heimatlosen auf dem endlosen Meer und die Heimatlosen im Becken. Heimat-Los. Hoffnungs-Los. Los der Hoffnung. Die bloße Theorie ist nichtssagend. Unvollständig. Ihre Realität unvorstellbar für einen Heimschwimmer wie mich. Geboren, geborgen, geblieben.
Wie zur Hölle, denke ich, als meine Augen einem der schwimmenden Blicke begegnen. Wie zur Hölle hast du dieses Meer überwunden.
(II)
Du läufst auf einem Feldweg. Wiesen, Bäume. Fixpunkte am Horizont. Dein innerer Kompass dreht sich im Kreis. Orientierungsverlust. Ein metallischer Geschmack in deinem Mund. Du befühlst deine Lippen. Überrascht. „Er hat mich gebissen“, sagst du ins Telefon. Deine eigene Stimme fremd. „Komm sofort nach Hause“, sagt Feh am anderen Ende. Und du, noch einmal: „Er hat mich gebissen.“ Ich spreche, also bin ich.
Zuvor warst du stumm. Stumm, das war, als seine breite, nasse Zunge deinen Mund in Besitz genommen hat, ihn befüllt hat mit Speichel, in deine Mundhöhle gespuckt hat, ein Speichelfaden, den du geschluckt hast, halb daran erstickend. Stumm auch, als er dich in das Auto komplimentiert hat, die Plastikgläser auf der Rückbank mit widerlich warmem Sekt gefüllt hat, ihn dir eingeflößt hat. Stumm, das war, als du das Glas zum Mund geführt hast, seinen erregten Blick betrachtend, seine Bewegungen verfolgend, seine Hände, die unter deine Hose schiebend griffen, sich dich greifend hinter Stoff reißend gruben und weiter stießen in dich. Du, das war die Frau neben ihm, neben dir. Puppe, steif, tot. Emotionslos. Abgespalten. Besetzbar, benetzbar. Fingerabdrücke wie Fettflecke. Dick, nass. Ein Film vor dir auf der Leinwand. Was passiert hier? Was passiert hier, und wie kam es dazu? Dann hast du entschieden, den Film anzuhalten, hast dich zurückgehangelt in deinen Körper, deinen eigenen Willen geweckt, befragt und entschieden. Raus, nur raus. Ablenkung, die Strategie der Sanftmütigen. Der Schwachen. „Was ist das für ein Ring? Ach, zwei Kinder hast du? Wie schön, erzähl mir mehr bei einem Spaziergang.“
Am Ende bist du geflohen ins Niemandsland. Fremd hier wie dort. Einerlei. Jetzt wirst du ruhig. Interessant, denkst du und befühlst die Wunde an deinem Mund. Interessant, dieses Wesen, das sich Mensch nennt. Dieses Ich. Und wieder wird das Abstoßende zur Bereicherung, zu einem weiteren Stück Forschung, einer neuen Sprosse auf der endlosen Leiter der Selbsterkenntnis.