S beobachtet sie. Er folgt mit Blicken heimlich jedem ihrer Schritte, verstohlen, feindselig, während sie, ein Irr-Licht, unruhig durch die Wohnung streift. Alice, rastlos. Orientierungslos. Pechmarie, Pech-Alice seit der andauernden, der zermürbenden Erfolglosigkeit ihrer Suche. Selbst Schuld, denkt S, nicht ohne Genugtuung.
„Etwas eigenes finden“, hatte sie gesagt. „Mal alleine leben“, hatte sie gesagt, als wäre das ein erstrebenswertes Ziel. Ausweichend. Wahre Motive verschleiernd. Nicht einsehen wollend, dass sie in Wirklichkeit davonlief und mitten hinein in ihr Unglück, feige und naiv…
S kannte Alice. Er fühlte den Stoff, aus dem sie gestrickt war – Erzähl-Stoff, und er sah die Welt durch ihre Perspektive – Erzähl-Perspektive. Alice fand man ständig neu erschlossen vor, fand sie neu zusammengesetzt aus Teilen und Fragmenten von echt und Fiktion, sah ihre Grenzen verschwimmend Alice sich auflösen und neu verfangend sich fügen zu Halbem und Ganzem und wieder nicht gewinnen wider: Nichts. Er durchschaute sie so, wie er auch früher schon die Menschen in seiner Umgebung durchschaut hatte (ihren Egoismus und Gleichmut, ihre Unnachgiebigkeit, mit der sie Entscheidungen fällten und Leben aus den Angeln hoben, Lücken reißend und Gräben ziehend zwischen Wohnungen und Familien, Eltern teilend in Eltern-Teile…).
Jetzt sieht er zu, wie sie wahllos Schränke öffnet und wieder schließt. Wie sie Gegenstände zur Hand nimmt, um sie im selben Moment zurück zu stellen, fahrig und kopflos. Arme Momo. Hast du deine Stundenblumen verlegt? Aber die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen…
Bei dem Gedanken kommt eine Erinnerung in ihm hoch. Dies geschieht so unerwartet, dass S kaum Zeit für einen Übergang bleibt, kaum Raum für einen Raum-Wechsel: Bedruckte Pyjamas und vier nackte Füße, die neben ihm die Sprossen einer Stockbett-Leiter erklimmen… Ein Knarzen über ihm, wo zwei Körper es sich bequem machen… Kurz darauf die Vorlese-Stimme seiner Mutter, die den Raum erfüllt, leise und gedämpft…
Unwillkürlich fährt er sich über die Augen, doch die Bilder lassen sich nicht abschütteln. Im nächsten Moment fühlt er sich selbst in der Zeit zurückversetzt, als hätte Alice ihn mitgerissen. Vergangen, besinnt er sich auf den richtigen Tempus, ehe er die Erinnerung, die seine eigene ist, zulässt, dem Alice-Sog entzogen:
Es war die Pechmarie gewesen – das Mädchen, das man mit „schwarzem Kleber“ übergossen hatte –, die an diesem Abend das Interesse seiner Schwestern geweckt hatte. „Warum haben die das gemacht?“, hatte die Jüngere eingeworfen. Das war schon am Ende der Geschichte, zwischen zwei Absätzen, als einen Moment lang nur das Rascheln der umgeblätterten Seiten zu vernehmen war. „Wo die andere doch all das Gold und auch die Spindel zurück bekommen hat?“ (Sie war diejenige, die immer alles ganz genau wissen musste.) S gähnte. Er fand sich für Märchen wie dieses längst zu alt. Die simplen Figuren der Gebrüder Grimm interessierten ihn nicht mehr. Gauner und Detektive dagegen, Forscher und Zeitdiebe… das war schon eher nach seinem Geschmack. Prüfend bohrte er von unten einen Finger in das Loch, das er ein paar Tage zuvor mit der Bastelschere in die obere Matratze gestochen hatte, und das seitdem beständig wuchs. „Weil die eben nicht gemacht hat, was sie sollte“, gab er zurück und schnippte etwas Füllstoff zur Seite. Aber damit gab sich die die Jüngere nicht zufrieden. „Warum nicht?“, beharrte sie und drehte die erhitzte Oberseite ihres Kissens nach unten, um sich abzukühlen. (Das warum-Spiel konnte sie bis zur Unendlickeit fortführen, wenn es sein musste.) Jetzt schaltete sich auch die Ältere ein: „Weil die eben schlecht war, böse, verstehst du?“ Doch bevor die Jüngere erneut ansetzen konnte, war die Mutter in ihrer Erzählung fortgefahren und sie hatten wieder der körperlosen Stimme gelauscht, gedämpft vom beständigen Rauschen der Tonspur. Bis ein leises Klicken beim Zurückspringen der Play-Taste das Ende der Aufnahme angezeigt hatte und S aufstand, um die Kassette umzudrehen (in Hoffnung auf eine spannendere Seite B), während die Schwestern sich schläfrig in die Kissen kuschelten. „Warum“, hatte die Jüngere noch einmal gemurmelt, ehe sie einschlief, und die Frage hatte unbeantwortet im Raum gestanden. Und dort stand sie auch noch, als sich später, nach Schicht-Ende, ihre Mutter unbemerkt herein schlich und das Band aus der Stereo-Anlage nahm, um es in jener Nacht erneut zu belesen, zu überspielen mit einem weiteren Kapitel, einer weiteren Geschichte für den nächsten, neuen, Mutter-Kind-losen Tag.
Du siehst, denkt S jetzt, als Alice ein weiteres Mal an seiner Tür vorbei geschlichen kommt. Auch andere haben Geschichte. Nur, dass die inzwischen erwachsen geworden sind, Jobs mit Verantwortung übernehmen und ihre Zukunft planen, Beziehungen eingehen und sesshaft werden, statt vor jedem davon zu laufen, der es gut mit ihnen meint…
„Auf eigenen Beinen stehen“, hatte Alice gesagt, und er hatte geschnaubt. Hielt er sie etwa davon ab? Wut war in ihm hochgekocht. Und noch etwas anderes, altes, darunter, eine tiefe Gewissheit, Erkenntnis, Wahrheit: das sichere Wissen, verlassen zu werden – verlassen zu sein.
Doch ein Held, das wusste S, durfte niemals seine Schwachstelle offenbaren – so viel hatte er vom Leben und den Tonband-Kassetten gelernt. Nur, wer es verstand, jeden Anschein von Schwäche tief in sich zu verbergen, der war unbesiegbar, war un-verwundbar. Dies war seine Strategie, seine Über-Lebensstrategie, ihn über-leben und über-legen machend.
Darum hatte er sich vor Alice auch nichts anmerken lassen, als er weiter sprach, scheinbar amüsiert, fragend: „Welche Penner-Brücke darf’s denn sein?“ Und, imitierend: „Mi mi mi“, als sie von der „Notwendigkeit“ sprach, sich zu „verändern“ – das übliche egozentrische Gejammer – das übliche mi mi mi, wobei er ein Kopftätscheln in ihre Richtung angedeutet hatte. Doch sie hatte nicht gelacht, sondern war der Geste ausgewichen, ungewohnt kühl, ungewohnt un-duldsam.
Sie hatte von Anfang an nicht bleiben wollen, das war ihm jetzt klar. Hatte nur aus der Not heraus damals sein Angebot angenommen und das freie Zimmer bezogen, nachdem Feh sie angeschleppt hatte – Feh, die ihn von vornherein nicht respektiert hatte, die Gift zwischen Alice und ihm gesät hatte… Ausgenutzt, flüstert eine Stimme in ihm. Gedemütigt. Verraten.
Er hatte versucht vernünftig mit ihr zu sprechen. Hatte ihr klar gemacht, was es bedeutete, allein zu leben – allein zu sein. Dann hatte er ihr vorgerechnet, was sie sich leisten oder besser gesagt nicht leisten konnte, indem er ihre Einnahmen und Ausgaben einander gegenüber gestellt hatte – na bitte –, damit endend – kurzum –, dass kein Vermieter, kein Makler dieser Stadt sie akzeptieren würde: „Mit diesem Gehalt? Keine Chance…“, und als sie nicht hören wollte, verbohrt, auf eigenen Berechnungen beharrend, absurd, hatte er sogar selbst nach Zimmern gesucht – nach solchen, die sie sich leisten konnte: ein paar Dielenbretter unter einer Dachschräge : „wo du doch so gerne auf die Knie fällst; ein Speicher-Depot ohne Bad und ohne Küche: „wenn du dich schon unbedingt einschränken willst“; und schließlich – das konnte er sich nicht verkneifen – ein Einmann-Zelt, „kuschlig, vor allem im Winter“.
Doch Alice hatte sich unbeeindruckt gezeigt. Hatte nicht verstehen wollen, dass sie ohne ihn nicht zurecht kommen würde. Und das hatte sie jetzt davon, wie sie nun von Zimmer zu Zimmer irrte, unruhig, verloren. Doch er würde sich nicht um sie kümmern – nicht jetzt, so lange sie noch immer an ihrem Entschluss festhielt, Pech gehabt – nicht getan was sie sollte… Stattdessen würde er warten, bis sie ganz und gar am Boden lag, gezeichnet, verstoßen – und von selbst einsehen musste, dass sie sich falsch verhalten hatte, dass sie schlecht gewesen –
„Ich hab eine Wohnung“, platzt es aus Alice heraus, die sich abrupt zu ihm umgedreht hat. „Schon ab nächstem Monat.“ Das war’s. Jetzt war es heraus. Doch die Erleichterung währt nur kurz, als sie in S‘ versteinerte Mine blickt. Sie macht einen Schritt auf ihn zu. Zögernd. Er öffnet den Mund, wie in Zeitlupe. „Wusste gar nicht, dass du offenbar einen lukrativen Nebenverdienst gefunden hast“, sagt er langsam. „Hast du dein Hobby zum Beruf gemacht und lässt dich jetzt gegen Geld ficken?“ Alice flüstert etwas, seinen Namen, „S“, sagt Alice, leise, unhörbar fast, dann noch einmal, lauter: „S.“ Aber S reagiert nicht. Stattdessen sagt er: „Das muss es sein, denn du fickst ja sowieso mit jedem.“ Dabei er sieht durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht hier, oder als wäre sie jemand anderes. Und Alice macht noch einen Schritt auf ihn zu und sagt Dinge, die sie nicht meint, Lügen, sagt: „Es ist alles ok“, statt: Nichts ist ok. Sagt: „Ich bin doch noch hier“, statt: Ich will fort. Sagt: „Immer für dich da“, statt: Lass los, lass los, lass mich los. Aber dann begreift Alice, dass es egal ist, was sie sagt. Weil nämlich jedes Wort an S abprallt, an der Mauer aus Wut und Verachtung vor ihm abprallt und zerbricht und vergeht.
„Weißt du was?“, sagt S schließlich. „Du bist wirklich noch dümmer, als ich dachte.“
Und Alice stockt. Alice stolpert. Nach allem anderen stolpert sie ausgerechnet über dieses Kleine, über ein „Nochdümmer“, und fällt gegen eine Wand in ihrem Unterbewusstsein, die bröckelt und bricht und sich auftut auf magische Formeln wie „weißt-nichts“ und „kannst-nichts“ – ihr „Sesam, öffne dich“, und Alice strauchelt und stürzt wie der Falter, stürzt rücklings in eine Vergangenheit, in der Alice noch LS und die Welt noch ganz war, mit Dingen an ihrem Platz, fragil und brüchig zwar, doch unbestreitbar ein Leben, ganz.