Falter und Däumling

Traum. 

Du läufst eine steinerne gewundene Treppe hinab, wie in einen Kerker. In dem Saal über dir findet eine Hochzeit statt, doch du bist auf dem Weg zu den Waschräumen.
An der Mauer des Kellergewölbes begegnest du deinem goldgerahmten Spiegelbild. Obwohl es nicht deine eigene Hochzeit ist, trägst du ein bodenlanges, weißes Kleid. Es schlackert um deine Taille. Nur, wenn du tanzt, schmiegt es sich eng an deinen Körper.
Auf der Toilette schließt du dich in eine Kabine ein. Du hast Gewissensbisse ob deiner Kleiderwahl und bist unschlüssig, ob du dich hinauf trauen sollst: ganz in weiß, der Farbe der Braut…
Plötzlich nimmst du am unteren Rand deines Sichtfeldes eine Bewegung wahr. Dein Blick gleitet zu Boden. Ein abgerissener Daumen kriecht und windet sich dort zu deinen Füßen, suchend, tastend, mit den Überresten eines Handschuhs aus dunkler Spitze bekleidet. Du weichst zurück. „Er darf mich nicht berühren“, denkst du unwillkürlich, „er darf mich nicht finden.“ Der Finger wirkt merkwürdig verdreht, wie gebrochen. Der lange, hexenhaft gekrümmte Daumennagel über der fahlen Haut trägt Spuren von rotem Lack. Als du genauer hinsieht, erkennst du, dass es in Wirklichkeit Blut ist, das rot durch den Handschuh-Fetzen sickert. Der durchtränkte Stoff muss einmal königsblau gewesen sein.
Die blasse Schönheit kommt dir in den Sinn, die du unter den Gästen gesehen hast, eben noch tanzend und strahlend, in einem Kleid, genau wie deines, doch königsblau. Und Haaren, lang und seidig wie die deinen, aber schwarz wie Pech.
Jetzt erst befällt dich Grauen, begleitet von der Gewissheit: Die Dame in blau ist tot. Nur ihr Daumen kriecht weiter träge taumelnd vor dir über den Fliesenboden, eine Spur aus halb geronnenem Blut hinter sich herziehend.
Plötzlich ein Geräusch. In der Kabine nebenan regt sich jemand. Etwas fällt klappernd zu Boden und landet unter der Trennwand zu deinen Füßen: Ein Schuh, elegant, mit schmalem Absatz, genau wie der deine – nur königsblau.
Der abgetrennte Daumen, wie aufgeschreckt durch das Geräusch, macht ruckartig kehrt und krabbelt nun eilig auf den Gegenstand unter der Trennwand zu. Ohne nachzudenken gehst du in die Hocke und reißt den Schuh an dich, außer Reichweite der blutigen Kralle.
Blau schimmernd ruht der Fund in deiner Hand. Schön. Verführerisch. Du schlüpfst aus einem deiner eigenen, weißen Schuhe und gleitest in seinen farbigen Zwilling. Er passt wie angegossen. Du drehst und wendest sich, ohne noch auf den blutbefleckten Daumen zu achten, der sich näher an dich herangetastet hat. Bevor du es verhindern kannst, hat er sich in den losen Schuh gekrallt und ihn auf die andere Seite der Trennwand gezerrt.
Neben dir schlägt eine Tür. Du stürzt aus der Kabine, der blassen Gestalt im blauen Kleid hinterher, die jetzt vor dir die Stufen hinauf hastet. Mit wehendem Haar und blutigem Saum, darunter zwei verschieden farbige Schuhe – genau wie bei dir. Die Dame in blau eilt die Treppe hinauf – ein Geist, untot, oder doch un-tot? – und du hinterher.
Je näher ihr dem Saal kommt, desto größer wird deine Angst. Darfst du überhaupt hier sein? Schließlich habt ihr die Tür erreicht. Sie schwingt auf wie von selbst und die Dame in blau schlüpft hindurch.
Doch noch ehe du ihr folgen kannst, wachst du auf.


Alice ist wie betäubt. Gefühlstaub. Taub geht sie durch den Tag, und taub verbringt sie ganze Abende und halbe Nächte mit S, dem Kümmerer, dem Be-Kümmerer, der urteilend und erklärend alles weiß und alles kann: Besser, du würdest… Vielleicht solltest du… Und wenn Alice, abwesend, mechanisch lächelnd und nickend, zerstreut, stumm bleibt, versunken in sich und ihre Gedanken, dann ist S – weil unwidersprochen – zufrieden: Endlich hatte sie begriffen, dass er ihr ein wahrer Freund war – einer, der für sie mit plante und dachte, so, wie sie es brauchte.

Und während er das Abendessen zubereitet, gehen S einmal mehr seine guten Taten durch den Kopf: Dass er Alice bei sich aufgenommen hatte, Findel-Alice, vor beinahe einem Jahr. Dass er sie auch jetzt noch bei sich wohnen ließ, zu einem Spottpreis in möblierten Räumen – nicht einmal ein Bett hätte sie ohne ihn – und das, obwohl sie abends oft ohne Rücksprache fort blieb, eigene Pläne verfolgend, die er ihr später aus der Nase ziehen musste… Und dass er ihr stets die Augen öffnete, ihr schonungslos darlegte, was er von ihren überzogenen Ausgaben hielt, von ihren irrationalen Vorsätzen und Ideen und von all den anderen Problemen, denen er sich mit Geduld und Hingabe widmete, selbstlos, ohne einen Dank…

Ein Anflug von Bitterkeit überkommt ihn beim Gedanken daran, wie Alice ihn mitunter ausschloss aus ihrem Leben, ihn ausgrenzte und zurückwies. Kurz spielt er mit dem Gedanken, ihr die warme Mahlzeit an diesem Abend zu versagen… natürlich nur im Scherz, vorgeblich, als kleine Lektion… Schließlich war er es, der dafür sogte, dass sie vernünftig aß, und der sich alle Mühe gab, ihr die Kasteiung ihres Körpers auszutreiben: die albernen Versuche der Nahrungsreduktion ebenso wie die kranke Lust an Schmerz und Erniedrigung durch all die Perversen – wann begriff sie endlich, dass er sie mochte, wie sie war? Wem außer ihm, S, wollte sie denn gefallen? Erhielt sie von ihm nicht alle Bestätigung, die sie brauchte? Und ertrug er ihre Süchte und albernen Zwänge nicht stets mit einem milden Lächeln, mit sanftem, wohlmeinenden Tadel und liebevollem Necken?

Er nimmt den Topf vom Herrd und wirft einen prüfenden Blick auf die Uhr. Zeit, ihr eine Nachricht zu schicken. Aber heiter musste sie klingen, vielleicht ein: Na, du Rumtreiberin? nebst freundlichem Verweis auf die bereitstehende Mahlzeit… Obwohl sie auch von selbst auf den Gedanken kommen konnte, dass er sie erwartete… Doch statt sich mit ihm abzustimmen, ließ sie nichts von sich hören und bewies damit einmal mehr ihre Unzuverlässigkeit – eine weitere Schwäche, über die er bereit war hinwegzusehen. Konnte er nicht stolz darauf sein, dass er die Stärke besaß, die Alice fehlte? Jene Lebenstauglichkeit und Kompetenz, die ihr unreifer, unfertiger Charakter vermissen ließ? Sie war doch ein Dummerchen, dem jedes Zeitgefühl fehlte, schutzbedürftig und rührend wie ein veirrter Falter, der blindlings das Licht anfliegend sich wieder und wieder die Flügel versengte, wenn er, S, ihn nicht einfinge und zurückführte auf den richtigen Weg, um ihret-, um Alices Willen, die es einfach nicht besser verstand.

Und während S sich daran macht den Tisch für zwei zu decken – lauschend auf mögliche Schritte im Treppenhaus, oder das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, zaghaft herumgedreht von unsicherer Hand – nimmt ebendiese Hand in einem Café am entgegengesetzten Ende der Stadt das Handy vom Ohr und zugleich ein zweites Glas Wein entgegen, bevor sie einen weiteren Besichtigungstermin neben Anschrift, Kaltmiete und Quadratmeterzahl auf ein Blatt Papier kritzelt. Und weil Alice, das Dummerchen, in ihrem blinden Unvermögen nichts weiß von ihrer eigenen Hilflosigkeit, der Unsicherheit und dem ihr eigenen Schutzbedürfnis, beugt sie sich nun auch noch hinüber zum Nebentisch, mit hilfsbereit gezücktem Feuerzeug, und gleich darauf verwickelt in ein Gespräch unter Fremden.

Arme kleine Alice… Aber so waren sie nun einmal, die einfältigen Falter: immer unterwegs ins Licht.