Alice rennt gegen Türen in ihrem Kopf. Alice hämmert und schreit, rennt Türen ein und stürmt blind durch Gedankenräume, will nicht sehen und will nicht hören, nicht die eine Stimme hören, die überall und allwissend noch immer kommentiert, alles kommentiert:
Was soll das werden, Alice? Ein inszenierter Nervenzusammenbruch? Deine klägliche Rache? Hältst du es wirklich für klug, unsere Geheimnisse auszuplaudern? Hältst du es für klug, dich selbst zu beschämen und mich, BB, zum Feind zu erklären? Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich Menschen vernichten kann. Dass ich Dinge tun kann, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst. Denkst du, du kannst ungestraft Lügen über andere verbreiten? Denkst du, du kannst dich als Opfer inszenieren, als die ‚arme kleine Alice‘ ? Seien wir doch mal ehrlich: Die ‚bitte tut mir nichts‘ -Masche funktioniert nicht mehr. Du bist nicht das liebe, unschuldige Mädchen, als das du dich so gerne präsentierst. Es wird Zeit, Verantwortung zu übernehmen, Alice. Und wenn du ganz ehrlich zu dir bist, dann weißt du es: Du allein bist Schuld… Na komm, sag es… du wirst sehen, wie befreiend es sein wird, dir die Wahrheit einzugestehen… sag es, Alice… sag: ‚Ich bin Schuld’…
Und Alice hält sich die Ohren zu und stürmt weiter durch den Sturm in ihrem Kopf, stürmt Zimmer und erinnert, schreibt erinnernd schnell schnell alles auf, in den Nächten, so schnell es geht.
Der Weg zu ihrer neuen Arbeit war weit. War einen U-Bahn-Tunnelblick und eine S-Bahn-Zeitungszeit und einen Spazierweg weit, letzterer gewandert durch die Vorort-Siedlung, vorbei an Gärten und Fassaden, gut gepflegt, an Eigenheim-Erwerbern, gut betucht, und an Hecken, grundstücksgrenzgetreu gestutzt.
BB begrüßte sie strahlend. Sein Lächeln, breit, teilte das runde Gesicht in zwei Halbmonde, schob die Wangen nach außen und legte die Haut in dicke Falten. „Alice, wie schön…“ Er ergiff ihre Hand mit beiden Händen, warm, und führte sie hinein.
Das Haus war groß. Ein Wohnhaus, großzügig beraumt, mehr Zuhauseraum als Arbeitsraum. Treppenhaus, Küche, Bad… BB ging mit raschem Schritt voraus. Sein Gang leicht, in diesem Moment, tänzelnd fast: der absurde Tanz eines schweren, kompakten Körpes auf sicherem Parkett. Gelegentlich blieb er stehen und wies auf einen Gegenstand, ein Bild, eine Eigenheit… stolz. „Siehst du das, Alice? Hast du so etwas schon einmal gesehen?“
Der Konferenzraum im Erdgeschoss war ein Wohnzimmer. Eine Wohn-Landschaft. BB genoss ihre Reaktion. „Hast du schon einmal an einem solchen Ort gearbeitet, Alice?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern wies auf Sofa und Sessel, auf den Fernseher an der Wand und die Bücher in den Regalen. „Work-life-Balance, Alice. Schau dich um… Hier kannst du atmen.“
Hinter einer Glasfassade erstreckte sich der Garten. BB schob die Terrassentür auf und Alice erkannte einen Steg, der über einen kleinen Teich führte. Jenseits des Ufers hing eine Hollywoodschaukel, halb verborgen unter Ginsterbüschen.
„Wir arbeiten, wie wir leben“, sagte BB und tat einen Schritt zur Seite, um Alice vorbei zu lassen. Sie sah sich um. Am Ende der Terrasse befand sich ein Fass-ähnliches Becken, abgedeckt mit einer Plane. Darunter glitzerte es blau. Eine chromverzierte Leiter führte am Rande des Beckens hinauf. Leiter. Karriereleiter. Luxus. BB trat von hinten an sie heran. „Wir sind hier wie eine große Familie“, sagte er und legte Alice eine Hand auf die Schulter. „Meine Frau, meine Kinder, die wenigen Angestellten… und jetzt gehörst du dazu.“
Eine Verbindungstür führte in ihr eigenes Büro am Ende des Flurs. Empfangstresen, Sitzgruppe, Zeitschriften… Hinter dem Tresen befand sich ihr Schreibtisch. Empfang. Alice mochte die Vorstellung von sich als Dame, die empfing. Die begrüßte und geleitete und etwas gab, indem sie annahm, einen Menschen annehmend und aufnehmend und umfangend…
BB wandte sich zu ihr um. „Du repräsentierst mich“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Meinen Anspruch, meine Klasse. Begreifst du das, Alice?“ Er trat einen Schritt auf sie zu und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Er war jetzt ganz bei ihr, mit all seiner Aufmerksamkeit. „Du bist doch ein kluges Mädchen, nicht wahr, Alice?“ BB, dicht vor ihr, in Größe und Breite dicht, die Hände auf ihren Schultern, schwer... Alice spürte, wie sie aus der Fassung geriet. Wie ein Herzklopfen in ihr aufstieg unter all der Zugewandtheit, unter diesem Blick, eindringlich, ganz konzentriert auf sie, Alice, die nicht begriff, was sie sagen sollte, welche Reaktion die Situation von ihr verlangte… „Du begreifst, dass du lernen musst, wie ich arbeite… wie dieses Gehirn“ – er tippte sich kurz an die grauen Schläfen – „wie dieses Gehirn funktioniert…“ Er nahm das Gewicht von ihren Schultern und griff stattdessen nach ihrem Unterarm, drehte ihn mit einer Hand nach oben und legte die andere flach auf ihr Handgelenk. Beschützend. Gut. Sofort wurde sie ruhiger. „Begreifst du das, Alice? Begreifst du, dass du lernen musst, wie mein Gehirn tickt?“ Sie nickte. Sie sagte, sie begreife es. BB lächelte und strich über ihren Arm. „Und möchtest du mich repräsentieren, Alice? Möchtest du zu mir gehören?“ Alice dachte, wie seltsam das war, ihr Arm in seinen Händen, schön seltsam, und dass so viel Wärme ausging von diesen großen Händen, beruhigend, und Alice sagte, ja, das wolle sie gern. „Gut“, sagte BB und ließ ihren Arm los. Gut.
Du warst so rührend, Alice. Du warst so reizend. Ein hübscher Käfer, aber so beklagenswert… un-erzogen. Du hattest noch nie mit Menschen wie mir zusammengearbeitet: Menschen, die etwas auf sich hielten – die Elite, die First Class… Aber mit meinen Fähigkeiten konntest du es schaffen. Ich konnte dir so viel beibringen. Du gehörtest jetzt zu mir – ich hatte es dir gesagt, hatte gesagt: ‚Wen ich einstelle, den adoptiere ich.‘ Ich war jetzt deine Familie.
„Er hat einen Whirlpool im Garten“, erzählte Alice beim Abendessen. „Und eine Sauna im Dachgeschoss.“ Kopfschüttelnd griff sie nach dem Salat. „Seinen Massage-Raum solltest du mal sehen, und das angrenzende Badezimmer… Im Keller gibt’s sogar eine Sonnenbank…“ Fidelio zog eine Augenbraue hoch, während er Pasta auf ihren Teller häufte. „Und du darfst das alles mitbenutzen?“ Alice grinste. „Das hätte er wohl gerne“, meinte sie und nahm ihre Portion entgegen. „Von wegen ‚Nacktheit ist der natürliche Zustand des Menschen’…“ Fidelio ließ das Besteck sinken, das er eben aufgenommen hatte. Aufmerksam sah er sie an. „Das hat er gesagt?“ Alice biss sich auf die Zunge. BBs Warnung fiel ihr wieder ein. Was du hier erlebst, kannst du niemandem erzählen, Alice. Sie würden es nicht verstehen. „Der meint das nicht so“, versicherte sie schnell. „Der redet lauter so Zeug…“ Doch Fidelios Gesichtsausdruck ließ sie verstummen. Eine Falte war auf seiner Stirn erschienen. Nachdenklich sah er sie an. Alice beugte sich über ihren Teller und schob sich eine Gabel Spaghetti in den Mund. Plötzlich wollte sie nichts mehr erzählen. Wollte ihm nicht erklären müssen, dass es nur Spaß gewesen war, Scherze, in scherzhaftem Ton… Du willst also nicht in den Whirlpool, Alice? Schämst du dich etwa deines Körpers, Alice? Wie bedauerlich für dich, Alice… Sie wechselte das Thema und sprach über Belangloses, bis Wogen und Stirn geglättet waren.
„Nachtisch?“, fragte Fidelio nach dem Essen. Alice machte sich daran, das Geschirr zusammen zu stellen. Du repräsentierst mich, Alice. Deshalb will ich, dass du hübsch bist, Alice. „Ich bin satt“, behauptete sie und stand auf, um ihren Teller abzuräumen. Vor dem Garderobenspiegel strich sie sich im Vorbeigehen kurz über die Hüften. Prüfend, wie zufällig. Ich bin nicht attraktiv, Alice. Deshalb musst du an meiner Stelle attraktiv sein, Alice… BB hatte Recht. Fidelio würde es nicht verstehen. Nur sie verstand es. BB vertraute ihr. BB sah etwas in ihr. Und das genügte.