Glut

Alice tastet nach ihrem Handy. 2:15 Uhr. Sie wirft einen Blick zur Seite. S, schlafend. Ein Rücken jetzt, bläulich weiß, Nachtlicht-farben, sich hebend und senkend im gleichen Rhythmus wie das Kommen und Gehen der Gedanken in Alices Kopf, die, hellwach kreisend, Minuten zu dehnen drohen bis zum Tag, ein Tag im Leben eines Kreises, einer Stunde, einer Runde… Kreise, Kreisel, Karussell…

Hitze geht von S‘ Körper aus. Kriecht in die schweißgetränkten Laken und hinüber zu Alice, überzieht Alice, unerträglich jetzt, drückend. Vorsichtig schiebt sie ein Bein unter der Decke hervor, bis es über den Bettrand ragt. Kühle. Alice entspannt sich.

Im nächsten Moment erfasst sie ein Schaudern. Ein Kribbeln nur, wohlig-bedrohlich in den Zehen und sich ausbreitend über die Ferse bis ins Bein. Vorsicht, flüstert eine vertraute Stimme in Alices Kopf. Zieh das Bein ein, sonst… Eine Stimme wie ein Echo, ein dünnes Echo, dem Alice jetzt lauscht, dem sie nachspürt, inne haltend, das unbedeckte Bein noch immer in der Schwebe, während die Stimme warnt, diese früher-Stimme, kindlich warnend vor unheimlichen Wesen, die jeden Moment unter dem Bett hervorschießen würden, beißend und schnappend nach unbedeckten Gliedmaßen – Vorsicht, sonst hab ich bald keine kleine Schwester mehr… – Alice schiebt die Decke zur Seite. Die Erinnerung bricht ab. Als sie sich vom Laken löst, rollt S zu ihr herüber. „Bleib“, murmelt er und legt den Am um sie. Alice sinkt zurück ins Kissen, eingehüllt von S‘ Geruch. Sie schließt die Augen. Bleiben oder schlafen. Nähe oder Raum. Liebe oder – „Kann nicht“, sagt Alice, und es klingt wie Kannicht. Wie ein Name – Kannicht, der sie ruft. Kannicht, ihr ständiger Begleiter, ihr treuer Freund, ihr Beschützer.

Doch als sie sich aufrichtet, stößt sie auf ein Hindernis. Der Arm auf ihrer Brust, plötzlich schwer wie Blei. Alice stemmt sich dagegen. Der Arm rührt sich nicht. Alice verkrampft sich. Enge. „Nicht“, flüstert Alice, die Muskeln gespannt. Tu das nicht.

S beugt sich über sie. „Ni-icht“, sagt er, ihren Tonfall imitierend. „Ni-icht …“ Er zwickt sie in die Seite, wie zum Scherz. Sein Lachen klingt hohl. Gezwungen. Alice stößt ihn zurück. S umfasst ihre Handgelenke. Schraubstock. Mag die kleine Alice das etwa nicht?“, sagt S. „Bei anderen hast du damit doch auch kein Problem“, sagt S. Alice starrt ihn an. „Ist doch nur Spaß“, sagt S. Aber Alice lacht nicht. Alice starrt. Und Alice er-starrt. Spaß?? Alice wird schlecht. Und es ist nicht der Druck gegen ihre Brust, der ihr jetzt die Galle hochtreibt, und nicht der Schraubstock, der sie jetzt lähmt, denn selbst wenn S nun auch noch seine Beine um sie legt – Scherengriff –, glaubt Alice sich stark, stark und geschickt im Kratzen und Beißen – nein: Es ist sein Blick, der ihr die Kehle zuschnürt, der ihr jetzt das Blut aus den Wangen weichen lässt, nur um es gleich wieder zu stauen vor Wut, hilfloser Wut (aber Wut sei gut, Wut sei konstruktiv, behauptet Dr. Psych, denn Wut überwinde Furcht). Es ist dieser Blick, den Alice kennt, der sie zurück reißt und hinab zieht in einen Strudel aus Kummer und Scham. Und plötzlich ist S in ihren Augen – diesen einem unsichtbaren Tunnel entgegen starrenden Augen – nicht mehr S, sondern ein anderer. Und das Karussel in ihrem Kopf springt wieder an, spuckt Bilder, Sätze, gesprochen mit fester Stimme, BBs Stimme, höhnisch-dreist – „Alice-Käfer, du machst so Spaß“ – ein Hämmern gegen ihre Schläfen – „Alice-Käfer, warum freust du dich nicht?“ – ein Rauschen in ihrem Ohr – „Alice-Käfer, willst du, dass ich wütend werde?“ – ein Bohren in ihrem Schädel, ein bohrender Blick aus kleinen grauen Augen, BBs Augen, Funken schlagend – „… nicht den Funken einer Ahnung…“ Und während S sich klammernd über Alice beugt, das Gesicht in ein Grinsen gepresst – Spaß?? – sieht Alice nur jenes andere Gesicht, BB grinsend, BB überlegen, BB wütend.

Und dann wird Alice plötzlich ganz ruhig. Stumm. Alice, fort. Im Wunderland und irgendwo, nirgendwo mehr Alice, Käfer, Mädchen, nichts. Nichts denken. Nichts fühlen. Nichts müssen. Nichts sein.

Und als sie zurückkehrt in den Klammergriff, lauschend auf Atemzüge, tief und regelmäßig neben ihr, während der Druck auf ihre Brust nachlässt und S, entschlafen, Klammer-los gelöst neben ihr liegt, entwindet sich Alice seinen Armen und Beinen um ihren Leib, windet sich aus der Klammer, sich ausklammernd Zentimeter für Zentimeter, horchend auf den Atem des Schlafenden, bis hin zu Alice, befreit. Und langsam steht sie auf und für einen Moment steht sie vor dem Bett und betrachtet S, den Schlafenden, und dann schleicht sie hinaus, bevor S erneut wach wird und die Hand ausstreckt nach einem Körper, der nicht da ist, wieder nichts ertastend als das schlecht gespannte Laken, zerknittert und klamm.