Ein untadeliger Mann

Abendessen mit d’Artagnan. Alice erzählt. Ihre Aufregung hat sich gelegt. Das Herz schlägt im Takt, der Atem fließt. Sie erzählt von Anfang an, die ganze traurige Geschichte. Er lacht an den richtigen Stellen und blickt ernst, wenn sie es tut. D’Artagnan ist aufmerksam. D’Artagnan hat Humor. Seine Worte sind elegant, seine Manieren tadellos. Er analysiert, erzählt, sinniert… klug. Geistreich. Warm. Der Beste unter den Musketieren – zweifellos.
Sein schwarzer Hund ist ein Frauenmagnet. Schon wagen sich die Mädchen vom Nebentisch heran. „So ein Braver… So ein Feiner…“ Doch der schwarze Hund hat nur Augen für seinen Herrn. Genau wie Alice.

Im Freien nimmt er ihre Hand in seine. Sein Griff ist fest, sein Gang forsch. Alice muss laufen, um Schritt zu halten. Du Großer. 
Im Wagen ist es kaum wärmer als draußen. Über der Rückbank hängt eine Robe. D’Artagnan, der Gerechte. Immer auf der Seite des Guten. Oder? Er schiebt den Stoff beiseite und zieht ein Paket hervor, das er Alice in den Schoß legt. Sie löst die Schleife und schlägt den Deckel zurück. Batterien kommen zum Vorschein. Metallklammern. Ein Stück Seil. Und der Griff von irgendwas. Pleasure und Joy, eingeschweißt in Plastik. Alice, bespielt. Sie tastet sich durch den Inhalt. „Toyboys“, spottet S in ihrem Kopf. Alice zieht die Hand zurück. Als d’Artagnan den Motor abstellt, hat sie den Karton wieder unter die Robe geschoben. D’Artagnan nickt nur. Heute noch nicht.

Alice dreht das Wasser auf und schlüpft aus den Kleidern. Sie hetzt. Der Rasierer ist stumpf. Mehrmals rutscht sie mit der Klinge ab. Das gibt Spuren, hört sie Riff Raff sagen. Egal. 
Als sie zurück kommt, ist d’Artagnan auf ihrem Bett eingenickt. Halb liegend, halb sitzend, die langen Beine weit von sich gestreckt. Unter ihm die Bettwäsche mit dem Herzchenmuster. Der schwarze Hund döst zu seinen Füßen. Alice bleibt im Türrahmen stehen und betrachtet das Bild. Mann mit Hund auf Herzchen-Grund. Musketier und Mädchenzimmer. Ein überdimensionierter Gulliver im Land der Zwerge. D’Artagnan, deplaziert. 
Als der schwarze Hund den Kopf hebt, wacht sein Herr auf. Unser Herr, denkt Alice. Er richtet sich auf. „Fertig?“ Fertig.

Die junge Frau an der Rezeption tippt schnell und routiniert. Ihr toupierter Dutt sitzt. Das Make-up auch. Missie-chic. „Name?“, fragt Missie. Gefolgt vom Fingernägel-Stakkato, dem Klick-klack-klack auf der Tastatur. „Adresse?“ Klack-klack. Als Alice ihre Anschrift nennt, stutzt Missie. Irritiert hebt sie den Blick, begleitet von der Perfektion eines Lidstrichs. Die scharfe Kontur verleiht dem Missie-Ausdruck etwas  Starres, Starrendes. Lider-Last. Alice schenkt ihr ein Entgegenkommen, ein Zuvorkommen, sich lächelnd nach vorne beugend. „Nebenan“, bestätigt Alice sanft. Liebenswürdig. „Das ist gleich nebenan.“ Alice, beflissen. Und ihre Gedanken schweifen ab nach diesem Nebenan, zu Feh und S, zusammen am Küchentisch jetzt, oder jeder in seiner Kammer. Wohnen, geteilt. Nicht gemacht für Zweisamkeit. Und Bett, ungeteilt im Verschlag, im Alice-Arrangement, Alice-Unterschlupf – nicht gemacht für übergroßen Gulliver mit schwarzem Hund, deplaziert auf Herzchen-Grund. Sondern nur für Alice. 
Missie aber wohnt nicht geteilt. Missie führt kein albernes Kloster-Refugium in ihrem Schlafzimmer. Und wenn es eine Sache gibt, die Missie nicht vorzuwerfen ist, dann ist es mangelnde Gastfreundschaft gegenüber Bettbesuchern. Als ihr Blick deshalb jetzt von Alice zu d’Artagnan wandert, fallen Puzzlesteinchen dahinter klick-klick in ganz eigene Kategorien, fallen dort an ihren vorgefertigten Platz und puzzeln klick-klack ihr Bild mitten hinein in die offene Sensationsschublade, ein Bild von einem Nebenmann, neben Ehemann, der nebenan.
Und als d’Artagnan Alice jetzt auf den Hals küsst, fügt er sich wie von selbst ins Missie-Bild, ohne es zu ahnen„Rechnung auf die Kanzlei“, sagt d’Artagnan.  Klick. Und an Alice gewandt: „Du bist mein Kundentermin.“ Klack. Alice kostet von dem Moment. Und er schmeckt wie Zucker. Oh süße Nonchalance.

Hotelbar. Wein für Alice und Wasser für den schwarzen Hund. D’Artagnan verschwindet hinter einer Drehtür. Der schwarze Hund winselt. Alice legt den Arm um seinen Hals und schmiegt sich an ihn. Wange an Fell. Alice, zutraulich. Sie lassen die Drehtür nicht aus den Augen. Hunde-Augen, Alice-Augen. Hand an Pfote. Missie wagt sich vertraulich näher. „Ganz schön liebesbedürftig, Sie zwei… hab ich Recht?“ Sie zwinkert Alice zu. Welche zwei? Der Hund und Alice? D’Artagnan und Alice? So oder so, denkt Alice und zuckt mit den Schultern. Nichts, was dich kümmern muss. Eine Haarsträhne löst sich aus dem toupierten Dutt. Dahinter bewegt sich die Drehtür.

„Viel Spaß!“ ruft Missie ihnen hinterher. Verschwörerisch. Zwinkernd. Der Barmann feixt. Dann schließen sich die Aufzugtüren. „Ganz schön dreist“, bemerkt d’Artagnan und schiebt seine Hand unter Alices Kleid.

Teppichboden. Dunkle Möbel. Gestärkte Laken, blütenweiß. Der schwarze Hund kauert stumm an der Tür. Flucht ausgeschlossen. Alice, nackt. D’Artagnan zählt ihre Vergehen auf. Der Richter und sein Henker. Er zieht den Gürtel aus seiner Hose. „Weißt du was Schönes?“, fragt d’Artagnan und wickelt den Riemen zu einer Schlaufe. Alice wartet stumm, mit gesenktem Kopf. „Sohlenstreiche“, sagt d’Artagnan. „Das ist was Schönes.“ Sie spürt einen Luftzug an den Füßen. Im nächsten Moment entfährt ihr ein Schmerzlaut. Alice schlägt sich auf den Mund. Alice konzentriert sich. Alice zählt. „Eins – danke. Zwei – danke. Drei – …“ Fuck. Fußsohlen, brennend wie Feuer. Feuer-Füße. Feuer-Sohlen. Fuck, fuck, fuck. Alice zuckt und zappelt. „Da hätten wir wohl doch das Seil gebraucht“, sagt d’Artagnan und legt sich auf sie.

Später betrachtet sie den Mond durch den Vorhangspalt. Ihre Fußsohlen wie taub. Kniefall. Fallhöhe. Fall. D’Artagnan im Tiefschlaf an ihrer Seite. Bleiern. Reglos. Wie tot. Der Schlaf der Gerechten. Recht. Unrecht. Strafe. Fall.

Zitternd wacht Alice auf. Sie liegt in einer Lache aus kaltem Schweiß. Es dauert einen Moment, bis sie merkt, dass es nicht ihr eigener ist. D’Artagnans Körper glänzt feucht. Sein Atem geht unruhig. Das Laken ist bis zum Rand durchweicht. Die Decke klamm. Alice gleitet hinüber und schmiegt sich an ihn. Taucht ein in die Quelle der Feuchtigkeit. Schmiegsam, biegsam. Kalter Schwamm auf nasser Haut. Flüssigkeit perlt und strömt von Haut zu Haut, legt sich über sie wie ein Schutzfilm. Alice, badend in Schweiß. Sie treiben. Treibgut. Liebesgut. Ganz schön bedürftig. Hab ich Recht?