Elysium

Riff Raff fährt sie nach Hause. Reise durch die Nacht. Lichter, Autos, Asphalt. Sein Profil schwach beleuchtet. Scharf geschnitten. Sie lauschen Musik. Erik Satie. Alice hält ihre Finger vor die Augen und lässt sie im Takt tanzen. Sie löst sich auf. Sie schwebt. Sie sagt: „Wenn ich reich wäre, hätte ich einen Chauffeur.“ Wäre, hätte, könnte… „Und was bist du, Alice?“ – Froh, denkt Alice. Froh, zu sein.


Sie kauert auf dem Boden. Position des Kindes. Schmutz hat sich in den Fasern des Teppichs verfangen. Sie atmet Staub. Tisch, Stuhl, Bett… vor ihr ein Kleiderbündel. Seitlich der geöffnete Schrank. Sein Inhalt auf dem Boden verstreut. Spielzeug. Alice dreht den Kopf zur Seite. In der Schrankoberfläche begegnet ihr ein schwarz lackiertes Spiegelbild. Frau, nackt, gefesselt. Und: Mann mit Stock. „Angst?“, fragt Riff Raff über ihr. Sie zögert. „Vorfreude?“ Beides. Der Rohrstock fährt herab. Gefühle, betäubt.


Riff Raff und sein Blick. Stechend. Aus grünen Augen stechend, bohrend, Alice scharf durchbohrend. Wie Nadel und Kissen. Sie hält stand. Sie sucht. Sie forscht. Doch sie durchschaut ihn nicht. „Gut so“, sagt Riff Raff. Er hat sie im Griff. Sie und sich selbst. Er hält. Er trägt. Alice kommt zu ihm und Alice kommt an.


Nackt auf seinem Lager. Die Matratze schmal. Sie drängen sich aneinander wie Vögel im Nest. Frierend. Alice betrachtet die feuchten Wände. Die spärlichen Möbel. Zuhause ohne Wert. 
Riff Raff holt den Geigenkoffer hervor und öffnet die Schnallen. Im Innern ein Kunstwerk. Vorsichtig streckt Alice die Hand aus und berührt sachte das rote Holz. Er lässt sie gewähren. Kleinod. Sie streicht über Wirbel und Schnecke. Er beobachtet sie stumm. Kostbar. Als sie die Hand zurück zieht, nimmt er das Instrument heraus und legt es ihr in den Arm. Sanft schmiegt es sich an ihre Schulter. Mädchen, nackt, mit Geige. 
Er kniet sich hinter sie und stützt sie mit den Armen. „Die Hand locker am Griffbrett“, murmelt er, nahe an ihrem Ohr. „Jetzt der Bogen.“ Behutsam legt er ihre Finger um das Bogen-Bein. Auge, Frosch, Ring... Alice nickt. Er schließt seine Hand um die ihre und führt den Bogen an die Saiten. Der erste Ton. Magisch.


Riff Raff steht vor dem Bett, die Geige im Arm. Der Gürtel seines Morgenmantels hat sich gelöst, doch er merkt es nicht. Konzentriert streichelt er die Saiten. Vertieft in sein Spiel. Eins mit sich und dem Raum. Alice dreht sich. Dreht sich entlang einer unsichtbaren Umlaufbahn im Schatten des Geigers fortwährend um die eigene Achse, tanzend und kreisend wie die Puppe auf einer Spieluhr, bis die Konturen der winzigen Kammer verschwimmen und sie beide ihr entgleiten, spielend und tanzend sich verlierend zwischen Zeiten und Welten.


Er sitzt auf dem Stuhl. Sie kniet vor ihm. Ein verschnürtes Paket mit Knebel. Er zündet sich eine Zigarette an. Der ausgestoßene Rauch legt sich auf ihr Gesicht. Gezielt. Gewollt. Fast liebevoll. Sie atmet ihn ein. Nimmt ihn auf. Nimmt alles von ihm auf.
Ihre Vergehen – eine Aufzählung. „Wie war das noch…? Ganz schön frech.“ Sie schmiegt sich an ihn. Bittend. Bettelnd. Hungrig nach Riff Raff. Er lässt sich Zeit. Er lässt sie zappeln. „Hast du dir das verdient?“ Schlagen. Streicheln. Mehr.


Hände auf den Rücken.“ Alice gehorcht. Etwas legt sich metallisch kühl über ihren Rücken. Alice duckt sich im kalten Schauer. „Ja, ich weiß“, sagt Riff Raff. Gespieltes Bedauern. Er nimmt Maß. Wählt Ösen und Schlaufen. Verbindend. Kettend. Alice, gegliedert. Schließlich zeigt er ihr die losen Enden. Lächelnd. Er wickelt die Glieder um seine Handglenke und spannt die Muskeln. Ein Ruck geht durch ihren Körper, als er straff zieht. Die Kette zurrt sich zusammen. Alice bleibt die Luft weg. Im Netz.


„Komm!“ befiehlt er. Kann nicht. Er packt sie fester. „Komm!“ Geht nicht. Sein Blick wird kalt. Hände schließen sich um ihre Brüste. Er drückt zu. Sie schreit. Im gleichen Moment geht eine Welle durch ihren Körper. Ihre Augen weiten sich. Sie krallt sich an ihm fest. Lust und Schmerz. Schmerzlust. Lustschmerz. Riff Raff liest ihr die Erregung ab. Liest sie aus ihr heraus. Voller Genugtuung. Begierig. Am Ende befreit.
Als die Welle in ihr abebbt, löst er seinen Griff. Zurück bleibt ein dumpfes Pochen. Alice kreuzt schützend die Arme über der Brust. Alice zieht sich zusammen. Warum?, denkt Alice, gekrümmt. Warum nur so? Aber bevor der Schmerz ganz nachlässt, bevor Alice sortieren, trennen, begreifen kann, ist sie eingeschlafen und hat alles mitgenommen, Ungefragtes, Ungesagtes, Ungeweintes.
Und Riff Raff deckt sie zu und steht auf und stellt sich vor den Herd in die Restwärme, die aus der Ofenklappe strömt, noch so ein Vorteil von Pizza, und in Gedanken ist er bei Miete und Lohn, bei Einkauf und nächster Mahlzeit und Beginn der nächsten Schicht im Restaurant, nichts ahnend von Widersprüchen und Fragen in Alice, solcherlei Fragen, wie Riff Raff sie sich längst nicht mehr stellt, weil alles Ergründen ein Luxus ist, den man sich entweder leisten kann, oder aber man lebt am Rande der Existenz, wo es keine Rolle spielt, warum wir die Kämpfe führen, die wir führen. Sondern nur, wer am Ende als Sieger daraus hervor geht. Stärke und Macht. Seine Überlebensstrategien. Der einzige Weg zu Recht. Zu Liebe. Und letztlich: zum Glück.