Alice steht vor dem Sofa und spricht, als hielte sie einen Vortrag. „Frauen in Führungspositionen müssen…“ Seltsam, denkt Fidelio. Alice, dozierend. Ihre Bluse wirft nicht eine Falte, fällt ihm auf. Alice, falten-los. Tadel-los. Doch der Stoff ist dünn für diese Jahreszeit. Zu dünn, denkt Fidelio. Darunter zeichnen sich die Ränder ihres BHs ab. Es war derselbe, den er ihr letzte Nacht abgestreift hatte. Sie hatten sich geliebt. Im Dunkeln diesmal, und stumm, in-einander und jeder in-sich selbst zugleich versunken. Und doch war es schön gewesen. Vertraut. Alice war ihm vertraut. Oder? Mit Mühe konzentriert er sich wieder auf ihre Rede. Er hat den Faden verloren. „Der Mensch als triebhaftes Wesen hat…“ War ihr nicht kalt? Alice fror ständig. Und auch jetzt glaubt Fidelio, die aufgestellten Härchen auf ihren Armen zu erkennen. Arme, die in diesem Moment entschieden durch die Luft fahren, Worte untermauernd. Worte wie Selbstoptimierung und Neuprogrammierung, seltsam ungelenk aus dem Alice-Mund. Wie ihr in den Mund gebogen, denkt Fidelio. Hineingepresst, quer und ver-quer. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, fährt Alice unbeirrt fort. „Erfolg hat, wer …“ Stopp. Fidelio hebt die Hand. Genug. Zeit für einen Einwand. „Aber“, beginnt er und erkennt im selben Moment, dass er bereits verloren hat. Dass in diesem aber schon zu viel Widerspruch liegt, um Alice zu erreichen – Alice, entflammt. Angesteckt und entfacht. Als er ihren Blick bemerkt, bricht er ab. Alice sieht ihn an, wie… Abfall. Ab-fällig. Ein Ab-fall-Blick ist das, aus zusammengekniffenen Augen. Fidelio blinzelt. Flackernd. Unruhig. „Du verstehst das nicht“, sagt Alice kühl, und wendet sich ab.
Frosch und König
„Was hast du erwartet, Alice?“ BB blickt bekümmert, während er sich die Hände über dem Kamin reibt. „Er versteht es nicht, dein Heinrich.“ Mit trauriger Mine schüttelt er den Kopf. BB, mitfühlend. Alice war bei seinen Worten leicht zusammengezuckt. Heinrich. Unangenehm verhallt der falsche Name im Raum wie ein dissonantes Echo.
Namen, hatte BB gesagt, Namen könne er sich nicht merken. Die sortiere sein Gehirn automatisch aus. Weil es die Namen der meisten Menschen nicht für ebenbürtig hält, Alice. Weil mein Gehirn zu wertvoll ist, um sich mit Unwichtigem vollzustopfen. Dafür habe er sie, hatte BB gesagt. Ihre Aufgabe sei es, sich all die unwichtigen Namen zu merken. Du musst mein Gedächtnis sein, Alice, hatte BB gesagt.
Alice besinnt sich wieder auf die Gegenwart. „Fidelio“, korrigiert sie beflissen. „Nicht Heinrich.“ Heinrich. Sie muss an das Märchen vom Froschkönig denken, in dem einer sagt: Heinrich, der Wagen bricht. Dreimal wird es gesagt, erinnert sich Alice, und dass es nicht der Wagen war, sondern Eisen, gelegt um ein Herz. Aber weiter erinnert sie sich nicht, denn in letzter Zeit sind Märchen nichts, an das zu erinnern noch einen Wert hat. Nicht, seit die Bilder, die Gemalten, von ihrem Schreibtisch verschwunden sind, und auch das von Fidelio. Damit sie nicht wieder in die Traumwelt abdriftet, sagt BB. Die Traumwelt, in der sie BBs Anweisungen missversteht und Details überhört, sagt BB. Details, die BB definitiv erwähnt hat, denn BB hat ein fotografisches Gedächtnis, sagt BB, und das hat Alice nicht. Nein, denkt Alice jetzt, definitiv nicht. Außer vielleicht bei Namen.)
Im selben Moment dreht BB sich zu ihr um. „Natürlich“, sagt er milde, wie zur Antwort auf ihre Gedanken. „Ich weiß, wie dein Freund heißt, Alice.“ Und seine Stimme wird noch eine Spur sanfter, als er ergänzt: „Aber Heinrich ist der passendere Name für einen Diener. Findest du nicht?“
Und zwischen Alice und Fidelio entspinnt sich ein Reigen aus Ein- und Abwenden – ein neues Zusammenspiel, wechsel-wirkend und wechsel-haft, mehr Um- als Mit-einander: aus Fidelio, einwendend, und Alice, sich-abwendend. Und Fidelio hört auf, die reine Freude zu sein, und beginnt ihr zu folgen wie ein Schatten – ein stiller Schatten, nachdenklich und stumm.
Reiz
Als der Klient sich verabschiedet hat, schließt BB die Tür. „Der Mann hatte nur Augen für dich. Hast du das bemerkt?“ Er dreht sich zu Alice um und betrachtet sie wohlwollend. Stolz. Besitzer-Stolz. Heiße Freude durchströmt Alice. BB, zufrieden. Jetzt kommt er auf sie zu. Als er vor ihr steht, hebt er den Arm und berührt ihre Wange. Liebevoll. Alice fühlt die Röte darin. BB lächelt. Seine Augen leuchten. „Spiel mit deinen Reizen, Alice. Sie machen dich stark. Sie geben dir Macht. Mach mich stolz, Alice. Mach mich stark.“
An diesem Tag hatte ich dich schon gewollt, bevor ich dich sah. Du warst enttäuschend pünktlich. Es gab so wenig Anlass dich zu tadeln, dass ich beinahe die Lust verlor. Doch wenig später, als ich dich vor mir auf der Treppe hatte – du voraus auf dem Weg nach oben, provozierend langsam mit weichem Gang, Stufe für Stufe nach oben steigend in diesem lächerlichen Rock – da musste ich mich zurückhalten, um nicht mein Gesicht dagegen zu pressen – an diese weiche Rundung, so greifbar nah. Wie du wohl reagiert hättest? Wie sehr hätte ich dein überraschtes Keuchen genossen. Dein abruptes Stehenbleiben, sodass ich gegen dich geprallt wäre, meine Hand von hinten zwischen deine Beine schiebend, um dich zu betasten…
Geisha
„Komm her, Alice“, sagt BB, als sie eintritt. Er steht vor einem Gemälde an der Wand und winkt sie heran. „Komm und stell dich neben mich, genau hier. Und dann sag mir: Was siehst du auf diesem Bild?“
Das Porträt zeigt eine junge Frau mit asiatischen Gesichtszügen. Ihr schwarzes Haar ist kunstvoll aufgetürmt und mit Blumen geschmückt. Ihre Haut ist weiß geschminkt, die Lippen von einem unnatürlichen rot. Glänzend und voll, geformt wie ein aufgesprungenes Herz, das sich dem Betrachter in jedem Moment öffnen zu wollen scheint. Puppen-Mund, denkt Alice, während sie die fein geschwungenen Linien verfolgt. Das Gesicht der Frau wirkt mädchenhaft, doch ihre Haltung, aufrecht, stolz, spricht von Erfahrung und Reife. Sie trägt einen Kimono mit kunstvoll ziselierten Falten. Auf einer Seite hat sich die Stoffbahn gelöst, gerade so weit, um ein Stück der Schulter frei zu geben. Unwillkürlich berührt Alice ihre eigene bloße Schulter unter dem ausdruckslosen Blick, der über den Betrachter hinweg zu gleiten scheint. Abwesend, denkt Alice. Ein Blick in-sich, ohne Zugang. Und ohne Preisgabe von Emotion. Doch dahinter die Welt.
„Sie war eine japanische Konkubine“, sagt BB neben ihr. „Sie hatte selbst keinerlei Macht, aber sie beherrschte die mächtigsten Männer des Landes.“ Er wendet den Kopf und der Luftzug seiner nächsten Worte streift ihren Hals. „Sexualität ist Macht, Alice. Du hast Macht, Alice. Glaubst du mir das?“
An diesem Abend wies ich dich an, die Zimmerpflanzen zu gießen. Wie gern hätte ich mich hinter dich gestellt, als du im Begriff warst, dich zu einem der tiefen Bodentöpfe hinunter zu bücken. „Tiefer,“ hätte ich dich aufgefordert, darauf bedacht, dass kein Tropfen Wasser auf das Parkett verschüttet würde. Und wenn deine Hand gezittert hätte und doch etwas daneben geflossen wäre, hätte ich meine Hand ausgestreckt und unter dein Kleid geschoben, um sie sanft auf deinen Hintern zu legen, sie seiner Form sich anpassend zu schmiegen an deine runden Backen, zärtlich fast, und zwischen uns nur das schwarze Nylon deiner Strümpfe. Doch beim zweiten Verschütten hätte ich grober werden müssen, hätte die Strumpfhose am Bund gepackt und nach unten gezogen, dein Kleid gehoben und den Anblick genossen, für einen Moment, um gleich darauf mich unter den Stoff zu schieben und nach vorne zu gleiten, tastend, bis zu deiner Perle, feucht und pochend unter meinen Fingern. Und beim dritten Fehler schließlich, wenn dir deine Tätigkeit zusehends schwer gefallen wäre, hätte ich einen Finger in dich hinein geschoben, um deine feuchte Wärme zu genießen, sie zu erforschen und zu befühlen – so lange, bis du deine Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erfüllt hättest.
Es gab so vieles, was wir miteinander anstellen konnten – aber ich durfte nichts überstürzen. Es musste von dir ausgehen… und ich wusste: Du würdest mir ein Zeichen geben, früher oder später. Und wirklich sollte ich nicht mehr lange darauf warten.