Herr O war in der Geschichte nicht vorgesehen. Herr O schob sich dazwischen wie der Mond sich vor die Sonne schiebt, manchmal, um die Dinge und Menschen in ein spezielles Licht zu rücken – eine freundliche Erinnerung an das Abgewandte, Hintergründige, wie um zu sagen: Schau her, das ist die dunkle Seite, deine und meine. Und du entkommst uns nicht.
Feh und S waren dagegen gewesen. Gegen die 500 Kilometer – „Zu weit!“ Gegen Herrn O – „Freak!“ Und gegen das Hotel – „Bist du irre?“ Das Warum stand überdeutlich im Raum, schwebte schon über den Köpfen, bevor es ausgesprochen war. „Weil er schöne Geschichten erzählt“, hatte Alice gesagt. Und S hatte erwidert, dass Alice ja mal ein Buch lesen könne, oder eine Serie gucken, „wie jeder normale Mensch“, statt dieser „Blind-Date-Inszenierungs-Scheiße“. Gereizt hatte das geklungen, mit Betonung auf normal in dem wie jeder normale Mensch.
Aber normal ist kein Maßstab für Alice. Normal ist für sich genommen noch nicht einmal messbar, und vor allem ist normal nichts, was einen antreibt. Neugier schon.
Deshalb ist Alice in den Zug gestiegen. Deshalb hat Alice sich auf der Zugtoilette umgezogen, hat sich in Lederkleid und Stiefel gezwängt, an ihren Strümpfen gezerrt und sich eine Laufmasche gerissen, während neben ihr die Spülung lief und der Wassersog fauchte und der Waggon über eine Weiche donnerte, und Alice, die Wankende, daran dachte, dass das Aufsuchen von Zugtoiletten ganz allgemein und speziell das Umziehen über einer vollgepissten Chromschüssel, flach durch die Nase atmend und jeden Kontakt zur Wand vermeidend, vielleicht zu den demütigendsten Momenten gehörten, die das Leben so bereit hält, und S hätte wohl gesagt: Glückwunsch – da stehst du ja drauf.
Bahnhofsvorplatz. Alice geht vorbei an Schlagzeilen und Statements, an einem Obdachlosen mit Bin krank brauche Hilfe, in Edding-Lettern auf ein Pappschild gemalt, und an einer Gruppe Neonazis mit Ein Reich – ein Kampf auf schwarzer Banderole. Und als Alice in ein Taxi steigt, denkt sie, dass diese Stadt gar nicht so sehr anders ist als ihre eigene Stadt, dass nur jemand die Namen vertauscht haben muss und die harmlosen Punks durch Neonazis ersetzt haben muss – so wie eigentlich oben auch die Statements vertauscht gehören auf Pappschild und Banderole, zwischen Obdachlosem, um ein Reich kämpfend, und Rechtsextremen, krank im Kopf und auch sonst.
Rezeption, Aufzug, Flur. Niemand hat ihr den Weg gewiesen. Niemand hat zu ihr etwas gesagt wie „Sie werden erwartet“, was ihr ein Gefühl von Verruchtheit hätte geben können – Alice, die femme fatale. Stattdessen ist Alice einfach durchgehuscht. Ohne Stolz. Ohne Erhabenheit. Alice, scheu.
Von der Zimmernummer blättert der Lack. Alice klopft. Und sie fürchtet, dass es zu leise, zu zaghaft war, und klopft noch einmal lauter, sicherheitshalber, obwohl das nicht vereinbart war. Dann tritt sie ein.
Im Zimmer ist es dunkel. Alice blinzelt. Alice wartet. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt haben, sieht sie die Silhouette vor der Fensterfront. Mann im Sessel, umrissen. „Komm her“, sagt die Silhouette. Komm her. Und als Alice gehorcht, als sie äußerlich dieser Stimme folgt, die sie nicht kennt, diesem fremden Komm her, bleibt etwas von Alice zurück und sieht sich selbst zu, wie sie zu der Silhouette geht, sieht zu, wie Alice sich, Befehlen folgend, entkleidet, Stück für Stück, und auf dem Sessel kniend nach vorne beugt und die Hände auf der Lehne abstützt, den Kopf gesenkt, während der Mann, der ihr fremd ist, den Alice-Körper betastet, den Alice-Körper erkundet, „schön bist du“ flüsternd, wie um das Fremdsein zu überbrücken, das sich nicht überbrücken lässt. Und als Alice – „Geh ins Bad“ – dort ein Kleid vorfindet und Stiefel mit hohem Absatz und Ösen, eng zu schnüren über langem Schaft, legt sie alles an und denkt, wie seltsam es ist, dass etwas passen kann wie für einen gemacht und und sich gleichzeitig so falsch anfühlen kann. Und als Alice so passend und falsch gekleidet aus dem Bad kommt, packt eine Hand sie im Nacken und zerrt sie vor den Spiegel und der Mann fragt: „Wie findest du dich?“ Und Alice denkt: nuttig, Alice fühlt sich nuttig, und weil er sagt „Lüg mich nicht an“, sagt sie es ihm. Und der Mann freut sich, „Die Nutte, die du bist“, und erklärt, dann träfe es sich ja gut, dass er noch jemanden erwarte, der ihn bezahlt habe, um mit Alice zu spielen, und Alice durchfährt ein kalter Schreck, für einen Moment. Und Herr O zerrt sie zur Tür, öffnet sie und wirft einen Blick den Flur hinunter, und dann stößt er Alice hinaus auf den Gang. „Willst du nicht nachsehen?“, sagt er und es ist keine Frage, „Willst du nicht nachsehen, wo dein Kunde bleibt?“ Und dann schließt er die Tür von innen und Alice steht allein auf dem leeren Gang und drückt sich gegen die Wand, während ihr Herz gegen die Brust hämmert und sich jeden Moment eine der Türen zur Linken und zur Rechten auftun kann, oder jeden Moment ein Gast wie angekündigt am Ende des Flurs auftauchen kann, denn wer weiß schon, was Spiel und was Ernst ist, so wie Alice ja auch nicht weiß, was ihr lieber wäre, bloßgestellt oder verkauft, und die Sekunden dehnen sich aus, bis sich die Hand wieder um ihren Nacken schließt und zurück ins Innere zieht – geschützt, aber lange nicht frei, nur Freier-befreit.
Später in der Nacht reibt sich Alice die Handgelenke an den wunden Stellen – dort, wo er sie ans Bett fixiert hatte – und wartet darauf, dass ihr nackter Körper warm wird unter dem dünnen Laken. Das Halsband drückt, denn das sollte sie anbehalten. Ebenso wie die Stiefel. Dressed for Sex, wie er es nennt. Er, der neben ihr liegt, ruhig atmend, beide darauf bedacht, einander nicht zu berühren. Und Alice denkt ans Freisein im Gefesselt-sein und ans allgemeine Unfrei-sein in Zwängen und Ängsten und Hoffnungen, und dann denkt Alice, dass eine, die sich nicht fühlt – eine, die ohnehin alles mit sich machen lässt – auch wirklich ebensogut Geld verlangen könnte für das, was mit ihr getan wird, und Alice denkt an Löhne und Angebote und Stellenprofile, für die es keine Berufsberatung und keinen Tarifvertrag gibt. Aber dann rollt Alice sich doch zur Seite und schmiegt sich an den Rücken neben ihr, um jemanden zu fühlen – wenn schon nicht den eigenen Körper, dann doch zumindest den anderen – und der Rücken des Mannes schmiegt sich in ihre Umarmung und erwidert die Nähe, und dann ist es doch wie eine Brücke, ein Über-brücken im Fremd-sein, mit dem sich einschlafen lässt, während der Mond sich fortschiebt von der Sonne und den Blick wieder frei gibt auf die andere, die hellere Seite – deine, meine, unsere.