Abwege (Märchen I)

Absolem ist mal da, mal nicht. Mal so nah, dann wieder fern. Er droht mir im Spiel, macht Scherze, lockt. Bevor es Ernst wird, zieht er zurück. „Mein Mädchen“, sagt er. „Mein Mädchen sagt zur Zeit zu niemandem nein.“ – „Für dich vielleicht schon“, gebe ich zurück. Wehmut.

„Kennen Sie das Dornröschen-Syndrom?“ fragt Dr. Psych. „Sich mit Dornen umgeben und dabei eigentlich nur wünschen, dass einer sie durchbricht …“

Erzähl-Zeit. Ich schmücke aus. Ich gestikuliere. Übermütig. Mit heißen Wangen. Ganz in meinem Element. Meine Kappe auf dem Tisch. Rotbäckchen, Rotkäppchen. Absolem hört zu. Aufmerksam. Lachend, kopfschüttelnd. Am Ende ernst. Ich verstumme. Absolem in Gedanken. „Du erinnerst mich an mich“, sagt er schließlich. „An früher. Alles ist Bereicherung, alles eine Geschichte. Du bist voller Neugier. Kommst vom Weg ab. Läufst über deine Wiese, ohne nachzudenken. Pflückst hier eine Blume und da eine andere. Du sammelst Geschichten.“ Pause. „Bin ich auch eine?“ Ich senke den Blick auf meine Kappe. Blumen, Wald, Käppchen … Absolem lehnt sich zurück. „Wer bin ich für dich?“ fragt er ruhig. „Heute böser Wolf, morgen der Jäger – oder doch vielleicht einer aus dem Wunderland?“ Ich spüre die Röte im Gesicht. Alice, ertappt. Gleichzeitig steigt Wut in mir hoch. Du bist vor allem verheiratet, denke ich und starre auf die Tischplatte. Wenig Raum für uns in der Realität.
„Meinst du mich?“ hakt Absolem nach und beugt sich vor. „Meinst du wirklich mich? Oder bin ich auch nur eine Figur in deinem Reigen, eine weitere Projektionsfläche deiner Selbsterfahrung? Glaubst du, deinen Männern gefällt das?“
Das hat gesessen. Das darfst du nicht mehr, denke ich. Das habe ich dir nicht erlaubt, denke ich. Mich so zu durchschauen, denke ich. Mich so zu sezieren, zu demaskieren… Einfach, weil er es kann. Wie nur Absolem es kann. Ich verschränke die Arme und recke das Kinn. Infantile Muster, höre ich die Stimme von Dr. Psych in meinem Kopf. Alice, trotzig.
Absolem hebt eine Augenbraue. Amüsiert, denke ich und schaue schnell wieder weg. Gelassen streckt er eine Hand aus und greift mir in den Nacken. Mit ruhiger Geste dreht er meinen Kopf in seine Richtung. Ich winde mich. Er verstärkt seinen Griff. Ich begegne seinem Blick. Meine Wangen brennen. Demut, demütig, gedemütigt… Absolem lächelt. Absolem lächelt voller Genugtuung. Er weiß, dass Alice sich durchschaut fühlt. Er kostet den Moment aus. Erst als er ihr das Eingeständnis, das Alice fügt sich vom Gesicht abgelesen hat, und dann das Alice, beschämt, erst dann lockert er seinen Griff und zieht mich an sich. Ich vergrabe den Kopf an seiner Brust und atme Geborgenheit. „Weißt du noch?“ fragt er und streicht mir über’s Haar. „Ja“, atme ich in seinen Pullover. „Alles.“ Ich hab dich im Gefühl.