Dr. Psych studiert Auswertungsbögen. Stumm vertieft, das Notizbuch aufgeschlagen. Der Stift in seiner Hand schwebt über dem Papier. Unschlüssig. Vage. Na, Dr. Freud?, denkt Alice. Passe ich nicht in deine Schubladen?
„Den letzten Test hätten Sie eigentlich auf Ihre Kindheit beziehen sollen“, bemerkt Dr. Psych, ohne aufzusehen. Alice legt den Kopf schief. „Hab ich doch.“ Sie kneift die Augen zusammen. „Das ist das innere Kind, das Sie heraufbeschworen haben.“ Alice, stichelnd. Dr. Psych macht eine wegwerfende Handbewegung. Geschenkt. Er notiert etwas. Alice betrachtet den weißen Haarschopf. Die gerunzelte Strin. Dr. Psych, nach Zusammenhang forschend. Nach Stimmigkeit. Nach einem Bild von Alice.
Sie lehnt sich zurück und lässt den Kopf auf die Sofalehne sinken. Eine vertraute Taubheit breitet sich in ihr aus. Ihre Gedanken lösen sich und schweifen zurück zum Vorabend. Zu Feh und Daja. Mond-Göttin. Jagd-Göttin. Und als Dr. Psych die Papiere sinken lässt und seine Brille abnimmt, um ihr von einer instabilen Persönlichkeit zu erzählen, die „von allem ein bisschen und nichts ganz“ zu sein scheint, hat Alice, abwesend, schon nicht mehr das Gefühl, es gehe um sie. Die Welt ist so viel. Und Fliegen im Geiste so leicht.
Abendessen bei Daja, der Sinnlichen. Daja – Perle in der Kette aus losen Freundschaften, die Feh sich umzulegen pflegt. Ausgewählt und einzig, wie jede Perle.
Es duftet nach Orient. Nach Würze und Exotik. Daja-Duft. Im Hintergrund Edith Piaf, die vom Neuanfang singt. Von einem ihrer vielen. Non, rien de rien… Daja erzählt. Mit Worten und mit Händen, tanzend durch die Luft. Sie erzählt von dem Mann und von Berlin. Niemand erzählt wie Daja. Im stolzen Slang, den Kopf hoch auf den Schultern thronend. Dajana, die Göttin des Mondes. „Und die Göttin der Jagd“, sagt Daja. Alice und Feh hängen an ihren Lippen, ihren Gesten. Sie beugen sich weit nach vorne, rücken näher an Daja heran und tauchen ein in ihren Duft. Fehs Augen glänzen. Alice hält sich das Glas an die geröteten Wangen. Die Kühle beruhigt. „Tja, und jetzt bin ich hier.“ Daja schenkt nach und prostet ihnen zu. „Auf die Reuelosen“, sagt sie und trinkt, voller Genuss. Ihr Mund glänzt feucht. Ihr Blick glüht. Mond-Göttin. Feh und Alice können nicht aufhören sie anzusehen. Non, je ne regrette rien...
Daja zwinkert ihnen zu. Daja ist schön, auf ihre Art. Daja flirtet. Mal mit Feh, mal mit Alice. Lächelnd, hinter halb geschlossenen Lidern. C’est la vie… oublié… „Alles vergessen“, übersetzt Daja und ihr Blick wird glasig. „Wenn das so einfach wäre.“ Alice streicht über die dunklen Härchen auf Dajas Arm. „Ich muss dich malen“, sagt Alice. Daja schüttelt die schwarzen Locken und lacht. Sie liegen sich in den Armen. Daja weiß nicht, was kommt. Daja macht keine Pläne. Daja ist Scheherezade. Und in der nächsten Nacht erfahrt ihr, wie es weiter geht… „Vergiss den Mann“, sagt Alice. Bleib bei uns.
„Wisst ihr, woran man die Mondsüchtigen erkennt?“, fragt Daja. Das Licht der Kerze hat sich in ihren Augen verfangen. Jetzt tanzt es darin wie betrunken. Leucht-Iris. „Am Leuchten“, sagt Alice. Die Lichtpunkte verschwimmen vor ihrem Blick. Weinzeichen. Weichzeichnen. Feh hält ihren Arm an Dajas. Bronze neben Elfenbein. „Am Teint“, vermutet Feh und ihre Stimme klingt schleppend. Aber Daja schüttelt den Kopf.
Der Abend verwischt. Und wird von der Nacht geschluckt. Daja begleitet Alice und Feh zur U-Bahn. Sie torkeln. Sie kreischen. Non, je ne regrette rien… Eine Wolke schiebt sich vor den Mond. „Nein, ich bereue nichts!“, ruft Daja und breitet die Arme aus. Der Lichtkegel in ihren Augen zerspringt. Daja kippt zur Seite. Sie laufen zu ihr. „Nichts!“, keucht Daja und stützt sich an einer Hauswand ab. Feh hält sie aufrecht. Daja nuschelt etwas. „Woran erkennt man…?“ Sie spuckt Galle. Oublié… „Am Neuanfang“, sagt Alice und streicht ihr die Haare zurück. „Am Neuanfang erkennt man die Mondsüchtigen.“ Bei Neumond ist alles vergessen. Daja schüttelt den Kopf. Daja würgt. Überhaupt nichts ist vergessen.
Die Stimme von Dr. Psych erreicht Alice von irgendwoher. Instabilität… Alice kehrt zurück. Sie atmet.
Dr. Psych spricht von Selbstentfremdung. Von chronischen und toxischen Verläufen. Von einer Abspaltung von Gefühlen. Und ihren Auslösern. Trennen, Trennung, getrennt… – „Nein“, sagt Dr. Psych. „Davor. Sprechen wir darüber, wie es dazu kam.“ Er sieht sie an. Abwartend. Stumm. Alice verschränkt die Arme. Dann sprich doch, denkt Alice. Aber Dr. Psych wartet. Dr. Psych schweigt. Schweigen, schwieg, verschwiegen… Alice denkt. Alice denkt daran, dass Reden Silber ist. Reden, denkt Alice, Reden ist ein silberner Löffel auf der Zunge, der süß oder bitter, schal oder würzig schmecken kann. Und Schweigen, denkt Alice, Schweigen ist ein Goldklumpen im Hals. Ein Goldklumpen an einer Goldschnur, die einem die Kehle zuschnüren kann. Oublié…
BB taucht vor ihrem inneren Auge auf. Feist. Breit. Mächtig. Alice zittert. Etwas zittert in Alice, zerrt an Alice. Ein Rütteln am Regal der Erinnerungen. Etwas darin schwankt, kippt, fällt, zerbricht. … niemandem erzählen, was wir tun…
Wieder verwischt der Raum vor Alice. Wieder ein Weichzeichnen der Konturen. Nur nicht des Weines wegen. Wein, weich, weinen. Weich-weinen.
„Haben Sie gewusst, woran man die Mondsüchtigen erkennt?“, fragt Alice und wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. „An dem ganzen Sand in den Augen.“ Sie greift nach dem Taschentuch, das Dr. Psych ihr reicht. „So viel Sand, dass er die Lider offen hält.“ Sie entfaltet das Taschentuch und teilt es in zwei Hälften. Und diese in vier. Und diese in acht. „Wirklich, Berge voller Sand. So viel Sand. So viel…“ Alice blickt auf ihren Schoß. Fasern von weißem Stoff haben sich darin gesammelt. Alice hat vergessen, warum. So viel Sand.